Am 29. Juni 2019 hatte Papst Franziskus sich in einem Brief an „das pilgerne Volk Gottes in Deutschland“ gewandt. Bischof Dr. Stephan Ackermann findet, dass der Brief auch viele spirituelle Anregungen für den diözesanen Weg der Synodenumsetzung im Bistum Trier und das Vorhaben, das synodale Prinzip bistumsweit zu leben, enthält. Deshalb hat er in zehn Folgen jeweils kurze Impulse zu zehn Kernaussagen aus dem Papst-Brief gegeben.
Das Gebetsapostolat im Bistum Trier hat die Impulse von Bischof Stephan zum Brief von Papst Franziskus "An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland" vom Juni 2019 auch als Gebetshilfe in einer Broschüre veröffentlicht. Hier können Sie diese als PDF herunterladen.
Einleitend schreibt Monsignore Helmut Gammel, Beauftragter für das Gebetsapostolat: "Für das Bistum Trier können diese Anregungen eine spirituelle Hilfe sein in der Umsetzung der Beschlüsse der Bistumssynode. Auch konkrete Umsetzungen wollen mit dem Gebet begleitet werden! Deshalb ist der jeweilige Impuls des Bischofs in ein kurzes Gebet gefasst. Darüber hinaus gibt es Anregungen zum Weiterbeten z.B. mit anderen Gebeten und Liedern aus dem Gotteslob. Damit ist es möglich, neben dem persönlichen Gebet auch das Gebet in der Gruppe oder bei gemeinsamen Gottesdiensten zu pflegen. Es sind Anregungen, die durchaus ergänzt werden können. So können die Beterinnen und Beter sich mit Papst und Bischof in den wichtigen Anliegen der Welt- und Ortskirche in ihrem persönlichen Gebet verbinden."
Die Broschüre können Sie direkt beimGebetsapostolat im Bistum Trier bestellen: Mailkontakt
Der Papst gibt in seinem Brief keine vorschnellen Antwort und Rezepte. Er bleibt dem Grundprinzip seines Vorgehens treu. Es heißt: Annehmen – Unterscheiden – Integrieren. Das ist das Erste: Die Wirklichkeit der Personen und der Dinge, bevor wir sie beurteilen, sie selbst sein zu lassen, sie in diesem Sinne annehmen und gelten lassen. Dann kommt der Schritt der Unterscheidung, bei dem es darum geht, die Realitäten aufmerksam anzuschauen und zu prüfen, nicht zuletzt im Licht des Glaubens. Das Ziel schließlich besteht für den Papst nicht darin, möglichst viele Aspekte der Wirklichkeit auszuscheiden, um allein den unverfälschten Kern herauszuschälen. Das Ziel heißt: einbeziehen, integrieren. Ganz im Sinne Jesu, der sagt: „Alles, was der Vater mir gibt, wird zu mir kommen, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ (Joh 6,37)
Es ist entlastend zu hören, dass der Papst vom synodalen Weg in Deutschland keine schnelle Revitalisierung und Erneuerung des kirchlichen Lebens erwartet. Es ist ihm bewusst, dass viele Faktoren zu der Situation beitragen, wie wir sie derzeit erleben.
Überraschend ist der Vorschlag, den der Papst zum Vorgehen macht: Er bezieht sich auf die Stelle in der Apostelgeschichte, an der erzählt wird, wie die Apostel Petrus und Johannes am Nachmittag zum Gebet in den Tempel gehen und dabei von einem Gelähmten angebettelt werden. Petrus antwortet ihm: „Silber und Gold besitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, steh auf und geh umher!“ Der Papst sieht die Kirche in Deutschland nicht in der Rolle des Apostels, der dem Bettler mit Vollmacht die Kraft Jesu zuspricht, damit er auf die Füße kommt. Das wäre die traditionelle Auslegung: Die Kirche ist diejenige, die spricht und gibt. Der Papst sieht uns stattdessen in der Rolle des Bettlers, dem die Kraft des Auferstandenen zugesprochen werden muss. Diese Kraft ist mehr als „Gold und Silber“, also menschliche Mittel der Absicherung. Damit bietet der Papst eine ebenso ermutigende wie herausfordernde Perspektive an.
Es ist wahr: Die Kirche ist keine Demokratie. In ihr herrscht nicht das Prinzip der Volkssouveränität, die „Selbstregierung der Regierten“. Die Kirche ist aber auch nicht einfach eine Monarchie von Papst und Bischöfen. Sie ist die Gemeinschaft derjenigen, denen Jesus Christus sich mit seiner Botschaft anvertraut hat zum Heil der ganzen Welt. Wenn wir daher von Synodalität in der Kirche sprechen, geht es im Kern um die gemeinsame Verantwortung aller Glieder der Kirche für die Botschaft, die nicht von Menschen ausgedacht worden ist und über die Menschen nicht abgestimmt haben. Gemeinsame Verantwortung kann aber nur wahrgenommen werden, wenn möglichst viele an ihr beteiligt werden.
Wenn Papst Franziskus Synodalität in der Kirche vom griechischen Ursprungswort her als einen gemeinsamen Weg unter der Führung des Heiligen Geistes versteht, dann will er damit sagen, dass Synodalität sich nicht im Austausch von Positionspapieren und in Debatten erschöpft, sondern bei den Beteiligten die Bereitschaft voraussetzt, sich persönlich aufeinander einzulassen und gemeinsame Erfahrungen zu machen. Dafür steht das Bildwort vom Weg: Miteinander gehen heißt eben nicht, nur punktuell und aus sicherer Distanz heraus in Kontakt zu treten. Es heißt, bereit zu sein, aufrichtig auf den Anderen zu hören und sich von dem positiven „Verdacht“ leiten zu lassen, der/ die Andere könnte auch Recht haben, vielleicht sogar mehr als ich … Von Dietrich Bonhoeffer stammt das aufrüttelnde Wort: „Der Christus im eigenen Herzen ist schwächer als der Christus im Worte des Bruders; jener ist ungewiss, dieser ist gewiss.“ Christus spricht zu mir ja nicht etwa nur durch das Wort der Heiligen Schrift oder des Gewissens, sondern auch durch Menschen, die mir begegnen. Um das zu erfahren, braucht es vor allem Reden die Bereitschaft zur Aufmerksamkeit und zum geduldigen Zuhören. Das schließt die Debatte über kontroverse Standpunkte nicht aus. Das war auch bei unserer Diözesansynode so. Am Ende aber stand – für die Synodalen oft selbst überraschend – eine Einmütigkeit, die mehr und anderes war als bloß der kleinste gemeinsame Nenner aller Meinungen. So stelle ich mir einen gemeinsamen Weg unter der Führung des Heiligen Geistes vor.
Gerade gegenüber der Kirche in Deutschland ist häufiger der Vorwurf zu hören, dass sie aufgrund ihrer finanziellen Kraft und ihrer Ausstattung in der Gefahr steht, das Heil vor allem von Organisationen und Strukturen zu erwarten. Papst Franziskus benennt diese Versuchung. Er sieht sie aber offensichtlich nicht nur in Deutschland, sondern er spricht allgemein von einer „der ersten und größten Versuchungen im kirchlichen Bereich“. Es handelt sich also nicht nur um eine deutsche Versuchung. Gleichwohl müssen wir zugeben, dass wir in Deutschland mit unserem Hang zu Ordnung und effektiver Organisation in der Gefahr stehen, uns zu sehr auf diesen Bereich zu konzentrieren. Andererseits verkennt auch Papst Franziskus die Wichtigkeit von Strukturen nicht. (Schreiben Evangelii Gaudium Nr. 26-32)
Ich sehe die Grundversuchung der Kirche, die der Papst meint, vor allem darin, sich zu sehr auf die Bereiche zu stürzen, in denen man etwas „machen“ kann: Organisationen und Strukturen kann man leichter verändern als Haltungen. Sollen diese Änderungen aber nicht äußerer Aktivismus bleiben, dann muss man ebenso ernsthaft an der Veränderung der Haltungen arbeiten, d. h. an dem Geist, dem die Strukturen dienen sollen. Im Sinne des Evangeliums geht es letztlich immer um Bekehrung. Bloße Veränderungen reichen nicht. Eugen Roth hat es in seinen Gedichten einmal wunderbar auf den Punkt gebracht: „Ein Mensch nimmt – guten Glaubens – an, er hab‘ das Äußerste getan. Doch leider Gott‘s vergisst er nun, auch noch das Innerste zu tun.“
Und die „vitalen Punkte“, von denen der Papst spricht, worin bestehen sie? Franziskus verweist auf sein Schreiben Evangelii Gaudium: Die Vitalität der Kirche besteht vor allem darin, nicht bei sich selbst zu bleiben, sondern Gemeinschaft zu sein, die aus dem Impuls des Evangeliums heraus über sich hinausgeht, die – mit einem Wort: missionarisch ist. Mit Paulus können wir auch sagen, der Vitalitätstest der Kirche besteht darin, dass die Christen mehr und mehr glauben, mehr hoffen, mehr lieben (1 Kor 13,13) und – dass sie mehr Freude ausstrahlen! (Phil 4,4)
Papst Franziskus erwähnt in seinen Texten und Ansprachen häufiger das Phänomen des „Pelagianismus“. Was ist das, und was meint der Papst damit? Der Begriff „Pelagianismus“ geht zurück auf einen Mann namens Pelagius, der Ende des 4. Jahrhunderts in Rom lebte und zusammen mit seinen Anhängern ein radikales Christentum propagierte. Pelagius war der Überzeugung, dass der Mensch mit Gottes Gnade und den ihm gegebenen natürlichen Fähigkeiten ein heiligmäßiges Leben führen kann. Im Laufe der Kirchengeschichte wurde „Pelagianismus“ immer mehr zur negativen Bezeichnung für ein leistungsorientiertes Christentum, das vor allem auf die eigenen Kräfte setzt und dem Wirken Gottes zu wenig zutraut. In diesem Sinn benutzt auch Papst Franziskus den Begriff. Immer wieder warnt der Papst vor der Idee, dass wir die Kirche oder gar das Reich Gottes „machen“ müssten oder könnten, wenn wir uns nur genug anstrengten. Diese Idee – ob man sie nun bewusst oder unbewusst verfolgt – ist für Franziskus Unglaube.
Wir müssen zugeben, dass die Befürchtung des Papstes nicht aus der Luft gegriffen ist: Nicht wenige sind der Auffassung, dass die Kirche viel besser dastünde, wenn sie sich mehr modernisieren und gegenüber dem gesellschaftlichen Mainstream nicht so sperrig anstellen würde. Andere sind der Überzeugung, dass die Kirche wieder zu alter Stärke zurückfindet, wenn nur die Gläubigen die Lehre der Kirche treuer befolgen, anstatt über sie zu diskutieren. Beide Richtungen wünschen sich Klarheit und Ordnung in ihrem Sinn, damit endlich mehr Ruhe herrscht.
Der Papst ist ein Freund der Unruhe: Das Bild eines ruhigen Lebens, eines Lebens ohne Spannungen hält er für trügerisch. Unruhe und Spannung hält Franziskus für ein Zeichen der Vitalität. Nicht umsonst hat er schon häufiger die Jugendlichen aufgerufen, in Kirche und Gesellschaft Unruhe zu stiften. Wo es keine Spannungen (mehr) gibt, fehlen Lebendigkeit und Energie. Auch das Evangelium Jesu bringt Spannung in unser Leben, provoziert, fordert heraus. Solange wir leben, werden wir uns nicht beruhigt zurücklehnen können und sagen: „Jetzt habe ich alles getan.“ Für Papst Franziskus sind die Spannungen in unserem Leben und in der Kirche kein Grund, den Mut zu verlieren. Vielmehr sind sie Zeichen von Energie.
Im Blick auf den geplanten synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland wird nicht zuletzt von manchen Bischöfen die Kritik erhoben, dass das Anliegen der Evangelisierung viel stärker in den Vordergrund gerückt werden müsse. Papst Franziskus scheint den Kritikern recht zu geben, wenn er in Erinnerung ruft, dass „die Evangelisierung unser Leitkriterium schlechthin sein muss“. Und er setzt hinzu: „Evangelisieren bildet die eigentliche und wesentliche Sendung der Kirche.“
Was aber bedeutet eigentlich Evangelisierung? Im Grunde nichts anderes als das ständige Bemühen, mein Leben in allen seinen Bereichen und die Welt, in der ich lebe, vom Evangelium berühren zu lassen. Anders gesagt: Evangelisieren bedeutet, das Leben und die Welt für Jesus und seine verwandelnde Botschaft zu öffnen.
Die Evangelisierung beginnt aber nicht erst da, wo Predigten gehalten werden und Katechese betrieben wird, sondern viel früher: Auch daran erinnert Papst Franziskus immer wieder mit dem Hinweis auf seinen Vorgänger, den hl. Papst Paul VI., der in seiner berühmten Enzyklika über die Evangelisierung in der Welt von heute deutlich gemacht hat, dass Evangelisierung vor allem darin besteht, Zeugnis zu geben. Dies ist zuerst und vor allem ein stilles Zeugnis „ohne Worte“, das „Zeugnis des Lebens“, der inneren Haltungen und konkreter Taten (EN 21). Das macht Menschen neugierig und bringt sie zum Fragen. Als Antwort braucht es dann die ausdrückliche Verkündigung, „denn auch das schönste Zeugnis erweist sich auf die Dauer als unwirksam, wenn es nicht erklärt, begründet … und durch eine klare und eindeutige Verkündigung des Herrn Jesus Christus entfaltet wird“ (EN 22).
So wenig also Evangelisierung die Botschaft von Jesus, dem Christus, verschweigen darf, so wahr ist es auch, dass Evangelisierung real und wirksam schon dort beginnt, wo Christen aus dem Geist Jesu heraus eintreten für die Würde des Menschen, wo sie gegen Ungerechtigkeit aufstehen, wo sie sich mit anderen Menschen guten Willens für den Frieden einsetzen und für die Bewahrung der Schöpfung, wo sie kurz gesagt durch ihre Präsenz die versöhnende und heilende Kraft Gottes spürbar werden lassen.
Auch wenn der Papst das Wort „Evangelisierung“ in diesen Sätzen nicht verwendet, so ist doch klar, dass schon die „Suche“ nach Gottes Reich ein unverzichtbares Element der Evangelisierung der Welt darstellt. Mehr noch: Mit dieser „Suche“ fängt alle Evangelisierung an.
Suche heißt: Hinausgehen, nicht bei sich selbst bleiben. Auch das ein Gedanke, der zu den Grundüberzeugungen des Papstes gehört. Er hat ihn schon vor seiner Wahl in den Zusammenkünften der Kardinäle geäußert. Damals hat er das Jesuswort „Ich stehe vor der Tür und klopfe“ aus der Offenbarung des Johannes (3,20) in einem überraschenden Sinn gedeutet: Jesus klopfe nicht nur von außen an die Tür unseres Lebens und der Kirche, um eingelassen zu werden. Er klopfe auch von innen an, um herausgelassen zu werden! Wir sollen Jesus und seine Botschaft nicht schützend vor der Welt einschließen. Wir sollen ihn für die Welt und die Menschen aufschließen!
Genauso originell ist im Papstbrief die Aufforderung hinauszugehen, „um mit dem Geist Christi alle Wirklichkeiten dieser Erde zu salben“. Wieso sollen wir alle (tatsächlich alle?) Wirklichkeiten dieser Erde mit dem Geist Christi salben? Ist die Salbung, die die Christen in der Taufe, der Firmung und bei den Weihen empfangen, nicht eine Auszeichnung und ein besonderes Privileg, das an die Salbung der Könige, Propheten und Priester im Alten Testament erinnert? Ja, die Salbung ist ein Privileg. Aber wir sollen dieses Privileg nicht für uns behalten, sondern es teilen, besonders mit den Benachteiligten, Schwachen und Geschlagenen. Salböl spricht von Reinigung, Heilung und Pflege. Die Wirklichkeiten dieser Welt mit dem Geist Christi zu „salben“ heißt, den Menschen Jesu heilende Nähe zuteil werden zu lassen. Es heißt auch: nicht in sicherer Entfernung und auf Abstand zu bleiben. Salben kann nur jemand, der keine Berührungsängste hat.
Schließlich lässt das bildhafte Wort von der Salbung auch an den Duft denken, der von einer Salbe ausgehen kann. Paulus war selbstbewusst der Überzeugung: „Wir sind Christi Wohlgeruch für Gott unter denen, die gerettet werden, wie unter denen, die verloren gehen.“ (2 Kor 2,15) Bemühen wir uns darum, dass den Menschen unserer Zeit die Kirche nicht „stinkt“ und miefig vorkommt, sondern dass unsere Gemeinden und Gemeinschaften den anziehenden Duft des Evangeliums verströmen.
Von Paulus stammt das Bild von dem Leib mit den vielen Gliedern, von denen jedes einzelne wichtig ist, aber nur in Verbindung mit dem Gesamtorganismus seine Bedeutung hat und lebendig bleibt (1 Kor 12,12-27). Die Kirche ist keine uniforme Größe, sondern ein Organismus, in dem Einheit und Vielfalt miteinander verbunden sind. Davon zeugt schon die Pfingsterzählung (Apg 2,1-11). Aber die Verbindung von Einheit und Vielfalt bleibt nicht ohne Spannungen. Sie muss immer wieder neu austariert werden, praktisch und theologisch. Bisher haben vor allem europäische Kultur und europäisches Denken die Kirche dominiert. Aber spätestens mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat hier eine Veränderung eingesetzt: Die Teilkirchen in Südamerika, in Afrika und Asien bringen heute mit Selbstbewusstsein ihre Anliegen und ihre Beiträge zum Ganzen der Kirche ein. Das ist gut so. Am deutlichsten wird das bei den regelmäßigen Bischofssynoden in Rom.
Natürlich laufen Beratungen und Entscheidungen langsamer, wenn unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen. Andererseits ist es durchaus nicht so, als ob die Themen, die beim synodalen Weg der Kirche in Deutschland beraten werden, woanders uninteressant wären! Das zeigen mir Gespräche mit Bischöfen aus anderen Teilen der Welt.
Für Papst Franziskus ist klar, dass die Weltkirche, die in und aus den Teilkirchen lebt, auf deren Beiträge angewiesen ist. Das meint er, wenn er schreibt, dass wir „Teil eines größeren Leibes sind, der uns beansprucht, der auf uns wartet und uns braucht, und den wir beanspruchen, erwarten und brauchen.“ Für den Papst ist der Hinweis auf die Verbindung mit der kirchlichen Gesamtgemeinschaft jedenfalls kein Totschlagargument für Diskussionen und für Veränderungen. Wie das aber mit dem „Voranschreiten“ genau geht, d. h. wie viel eigenen Spielraum zu denken und zu handeln bestimmte Regionen haben, das sagt der Papst nicht. Stiftet der Pontifex, der der oberste Brückenbauer sein soll, damit Verwirrung, wie seine Kritiker sagen, oder schlägt er mit seinen offenen Formulierungen Brücken in die Zukunft? Für die Antwort auf diese Frage tragen auch wir Verantwortung.
Damit synodale Prozesse in der Kirche gelingen, gibt es nach der Überzeugung des Papstes zwei Bedingungen. Sie heißen: Wachsamkeit und Bekehrung. Wer wach ist, ist aufgeschlossen für die Personen und Dinge, die ihn umgeben. Wachsamkeit ist das Gegenteil einer Selbstverschlossenheit, die glaubt, bereits alle Erkenntnis zu besitzen. Hier berührt sich Wachsamkeit mit dem, was christlich Bekehrung meint: Einen grundlegenden Perspektivwechsel zu vollziehen, der dazu führt, dass ich statt von mir auszugehen, bewusst von Gott und vom anderen Menschen her denke.
Interessanterweise spricht Franziskus nicht nur von der „Bereitschaft“ zur Bekehrung, sondern von der Bekehrung selbst. Mit anderen Worten: Für ihn gibt es in der Kirche keinen wirklich gemeinsamen Weg, ohne dass sich bei jedem einzelnen in irgendeiner Weise eine Bekehrung ereignet. Vorsichtiger ausgedrückt könnte man vielleicht sagen, dass in jedem wirklichen synodalen Geschehen jeder Teilnehmer Wichtiges dazulernt.
Wachsamkeit und Bekehrung sind für den Papst aber nicht einfach das Ergebnis eines guten Willens und menschlicher Anstrengung. Für den Papst sind sie Gnadengaben, die Gott schenkt. Am Menschen ist es, um diese Gaben zu bitten. Die Mittel dazu sind Gebet und Fasten:
Wer betet, öffnet sich dem Wirken Gottes und zeigt, dass er bereit ist, sich dem Größeren zu öffnen. Denn so sehr Jesus dazu auffordert, Gott, dem Vater konkrete Anliegen vorzutragen und darin nicht nachzulassen (Lk 18,1-7/ Mk 11,24), so sehr heißt die grundlegende Bitte vor und hinter der Klammer all unserer konkreten Bitten: „Vater, dein Wille geschehe!“ (Mt 6,9-13/ 26,42) Wer mit Jesus diese Bitte spricht, bekennt, dass Gott einen größeren Überblick hat als wir.
In einem Atemzug mit dem Beten nennt der Papst auch das Fasten. Das mag für uns Heutige außerhalb der traditionellen Fastenzeit ungewöhnlich klingen, ist es aber für die spirituelle Tradition der Kirche nicht. Denn Fasten, in welcher Form auch immer, bedeutet: Ich bin bereit, meine alltäglichen Gewohnheiten zu unterbrechen. Ich gehe nicht zur Tagesordnung über. Ich bin bereit, mich nicht nur abstrakt gedanklich und nebenher mit einem Thema zu beschäftigen, sondern mich ganzheitlich als Person zu engagieren. Gebet und Fasten sind Ausdruck meiner Ernsthaftigkeit. Gott wird sie nicht übersehen.
Die Seligpreisungen (Mt 5,3-12/ Lk 6,20-23) gehören für Papst Franziskus zu den Lieblingstexten des Evangeliums. Immer wieder bezieht er sich auf sie. Er hat sie schon einmal als den „Personalausweis des Christen“ bezeichnet (GE 63). Mit den Seligpreisungen könne man lernen, ein guter Christ zu werden, indem jeder Getaufte auf seine Weise das tut, was Jesus in den Seligpreisungen sagt.
In seinem Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland bezeichnet der Papst die Seligpreisungen als Spiegel und zitiert damit das, was er auch den Katholiken in Italien bei ihrem Nationalkongress 2015 ans Herz gelegt hat. Das Besondere dieses Christen-Spiegels ist, dass wir uns in ihm nicht einfach selbst spiegeln. Das wäre zu wenig. Die Spiegelfläche der Seligpreisungen ist das Antlitz Jesu. Im Blick auf ihn können wir erkennen, ob wir nur Christen heißen oder es wirklich sind. Denn Jesus hat die Seligpreisungen nicht nur über seine Jünger ausgerufen. Er selbst hat ganz nach ihnen gelebt, indem er, der göttliche Sohn, arm wurde aus Liebe zu uns, indem er getrauert hat über die Verstocktheit seiner Zeitgenossen, indem er darauf verzichtet hat, seine Botschaft mit Gewalt durchzusetzen, indem er über alle Gesetzestreue Gottes Barmherzigkeit gestellt hat … Deshalb sind die Seligpreisungen das Navigationssystem, das den Christen hilft, die Spur zu halten.
Gehören also die Seligpreisungen für Papst Franziskus zum innersten Kern des Evangeliums und des Christseins, so bieten sie für ihn zugleich die Brücke zu Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen: Wer sich nämlich an den Seligpreisungen ausrichtet und mitbaut an einer Welt der Gerechtigkeit, der Solidarität, des Friedens und der Liebe, der findet nicht nur als gläubiger Christ sein wahres Glück, sondern als Mensch überhaupt. Die Seligpreisungen waren zum Beispiel auch ein Lieblingstext von Mahatma Gandhi. Für Papst Franziskus ist das ein Beweis dafür, dass Christsein und Menschsein, Glaube und Humanität nicht gegeneinanderstehen, sondern sich in der Botschaft Jesu Christi verbinden.
Die Seligpreisungen sind also Gewissenserforschung, Kompass und Verheißung in einem. Es lohnt sich, sich ihnen immer wieder neu auszusetzen.
„Da verließen die Frauen das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemandem etwas davon; denn sie fürchteten sich.“ Mit diesen irritierenden Sätzen endete ursprünglich das Markusevangelium, bevor man einen mutiger klingenden Schluss anfügte (16,9-20). Bezieht sich Papst Franziskus auf diese Sätze, wenn er uns ermahnt: „Fliehen wir nicht vor der Auferstehung Jesu“?
Die Frauen im Evangelium hatten keine Angst, zum Grab zu gehen. Sie fliehen nicht einmal vor dem leeren Grab. Sie betreten es sogar, um es zu inspizieren. Was sie aber bis ins Innerste erschreckt und in die Flucht schlägt, ist die Botschaft des Engels, dass Jesus nicht tot ist, sondern lebt und seinen Jüngern nach Galiläa vorangeht.
Verständlich, dass die Auferstehung nicht unmittelbaren Jubel auslöst, denn sie ist das, womit am wenigsten zu rechnen war. Sie stellt alle menschlichen Gewissheiten auf den Kopf. Zu diesen „todsicheren“ Gewissheiten gehört vor allem der Tod selbst. Die Auferstehung, richtiger: der Auferstandene beunruhigt, weil er unsere menschlichen Vorstellungen durchkreuzt und Wege geht, an die vorher keiner gedacht hat.
Für Papst Franziskus ist das, was die Frauen am Ostermorgen erlebt haben, nicht abgeschlossen. Die Auferstehung geht weiter, ereignet sich in gewisser Weise immer wieder neu. Denn Jesus lebt, und er lebt dieses neue Leben nicht für sich allein, sondern er teilt es mit uns. Es ist die Energie seines österlichen Lebens, die uns Christen im Tiefsten vorantreibt. Davon ist der Papst fest überzeugt. Daher auch der eindringliche Appell, mit dem der Papst seinen Brief an uns Katholiken in Deutschland beschließt: Nichts in unserem Leben soll stärker sein als das Leben Jesu, das uns vorantreibt!
Nichts soll stärker sein: Nicht die eigene Lebensenergie, die wir in unseren stärksten Momenten empfinden, nicht die vielen Kräfte, die von außen auf uns einwirken, nicht die Situationen und Erlebnisse, die uns unsere Kräfte rauben, nicht die Enttäuschungen und Dunkelheiten, die uns mutlos machen … All das – so machtvoll oder bedrängend es auch sein mag – ist nicht stärker als die österliche Kraft Jesu!
Wessen Lebensgefühl sich aus dieser Überzeugung speist, der kann mit erhobenem Haupt durchs Leben gehen, ohne dabei eingebildet, selbstgefällig oder überheblich zu sein.
Liebe Mitchristen im Bistum Trier!
Mit Datum vom heutigen Tag [29. Juni 2019] hat Papst Franziskus einen Brief an „das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ gerichtet. In diesem Brief nimmt der Heilige Vater Bezug auf die aktuelle Situation der Kirche in unserem Land und auch auf den synodalen Weg, den wir deutschen Bischöfe für die kommenden Jahre vorgeschlagen haben.
Da das Schreiben des Papstes eben nicht nur an die Bischöfe gerichtet ist, sondern an das ganze Volk Gottes in unserem Land, möchte ich Ihnen den Text, der heute [29. Juni 2019] um 12.00 Uhr in Rom veröffentlicht wird, auf diesem Weg übermitteln.
Gerne empfehle ich Ihnen die Gedanken des Papstes, denn sie machen deutlich, wie sehr Papst Franziskus eine synodale Kirche wünscht. Zugleich gibt der Heilige Vater wichtige Hinweise für das Gelingen eines synodalen Miteinanders aus dem Geist des Evangeliums. Meiner Meinung nach wird deshalb das Schreiben ein gutes Begleitdokument für den gesamten synodalen Prozess auf der Ebene der katholischen Kirche in Deutschland sein. Für das Volk Gottes im Bistum Trier kann der Papstbrief eine Hilfe zur Vertiefung des synodalen Weges sein, den wir mit der Ausrufung der Diözesansynode im Jahr 2012 begonnen haben und der sich heute in der Verwirklichung der Synodenbeschlüsse fortsetzt. Sicher werde ich bei verschiedenen Gelegenheiten auf das Schreiben von Papst Franziskus zurückkommen.
Indem ich Ihnen noch einmal gerne die meditierende Lektüre des Schreibens empfehle (wozu sich vielleicht die anstehende Ferienzeit besonders eignet), bin ich mit allen guten Wünschen für eine gute Sommerzeit
Ihr
+ Stephan Ackermann