Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Beck,
sehr geehrte Frau Staatsministerin Ahnen,
liebe Mitbrüder, die Sie mich heute nachmittag begleiten,
meine sehr geehrten Damen und Herren!
Mitte der Neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts machte das Stichwort von der »verlorenen Nützlichkeit der Religion« die Runde* . Der Begriff sollte helfen, den epochalen Umbruch, in dem sich die christlichen Kirchen – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa – befinden, zu verstehen. In der Tat scheint der Begriff als Erklärungshilfe durchaus geeignet. Denn es ist offensichtlich, dass der handfeste Nutzen, den die Zugehörigkeit zur kirchlichen Religionsgemeinschaft im 19. und noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein brachte, heute längst nicht mehr auf den Raum der Kirche beschränkt ist. Den Nutzen etwa im Bereich der Erziehung, der sozialen Unterstützung oder der Beheimatung in einem sinnstiftenden gemeinschaftlichen Kosmos kann man heute vergleichbar in anderen Institutionen erfahren. Dazu braucht man die Kirche nicht mehr.
Andererseits ist inzwischen bereits wieder eine gegenläufige Tendenz auszumachen: Man spricht von einer Renaissance des Religiösen, die ihren Grund nicht zuletzt darin hat, dass man dessen Nützlichkeit wieder neu entdeckt. Denken wir nur an die Finanz- und Wirtschaftskrise, zu deren Ursachen man allenthalben auch eine moralische Krise zählt, die sich in einem erschreckenden Mangel an Anstand, Prinzipienbewusstsein, Augenmaß und Verantwortungsbereitschaft zeigt. Dieser Mangel ist leider Gottes nicht nur bei Managern und Vorständen zu beklagen (wenngleich diese zweifellos besondere Verantwortung tragen), sondern auch im Blick auf Anleger und Konsumenten zu konstatieren. Zwischen formaler Legalität und dem, was wirklich korrekt und richtig ist, können Welten liegen können. Das haben uns die zurückliegenden Monate drastisch vor Augen geführt. An den Folgen haben wir nun alle schmerzlich zu tragen.
Auf der Suche nach erneuerten Orientierungsmaßstäben sind christliche Werte wieder stärker gefragt. Die Prinzipien der katholischen Soziallehre rücken neu in den Blick. Die Kirche, insbesondere die Amtsträger werden aufgefordert, sich vernehmbarer in die Diskussion um eine gerechte Gesellschaftsordnung für unsere Zeit einzubringen.
Ich glaube sagen zu dürfen, dass wir von Seiten der Bischöfe in Deutschland diese Aufforderung bzw. diesen Wunsch, der gerade von politischen Verantwortungsträgern auf unterschiedlichen Ebenen immer wieder geäußert wird, aufmerksam hören und ernst nehmen. Wir wollen den Schatz an Erfahrung im Bereich des sozialen und individuellen Lebens, den die Kirche nun schon über fast zwei Jahrtausende und durch zum Teil eigene schmerzliche Lerngeschichten hindurch in sich gesammelt hat, nicht für uns behalten. Denn die Kirche ist, wie das Zweite Vatikanische Konzil ausdrücklich hervorgehoben hat, nicht für sich selbst da. Wir spüren den Anruf der geschichtlichen Stunde, in die wir – Gesellschaft und Kirche - gemeinsam gestellt sind. Wir wollen und dürfen uns ihm nicht entziehen. Dabei ist natürlich – das will ich gleich hinzufügen – zum einen die Eigenständigkeit der staatlichen Sphäre und ihre spezifische Verantwortung zu respektieren, zum anderen sind – um in abgewandelter Form ein Wort von Papst Benedikt XVI. aufzugreifen – die Bischöfe auch keine Orakel, die zu allen brennenden Themen der Gesellschaft gültige Antworten parat hätten, die man nur über die Pressestellen abzurufen bräuchte. Hier ist m. E. der spezifische Auftrag der christlichen Laien zu betonen, zumal derjenigen, die in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in verantwortlicher Position stehen und gerade dadurch die Verbindung von fachlicher Kompetenz und christlichem Bekenntnis einzubringen haben.
Wenn ich diese Anregung äußere, meine Damen und Herren, dann tue ich dies nicht, ohne dankbar anzuerkennen, dass es in unserem Land eine nicht geringe Zahl von Verantwortungsträgern in den unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens gibt (angefangen beim Herrn Ministerpräsidenten), die aus ihrer christlichen Überzeugung keinen Hehl machen. Ich sage: Gott sei Dank! Mit diesem Ausdruck der Dankbarkeit möchte ich meinerseits das Versprechen verbinden, dass ich als Bischof von Trier zusammen mit meinem Klerus, meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nach Kräften das tun werde, was dazu beiträgt, Werte wie Wahrhaftigkeit, wechselseitigen Respekt, Gerechtigkeit, Solidarität, Verantwortungsbewusstsein sowie Barmherzigkeit zu fördern. Dazu gehört in besonderer Weise unser kirchliches Engagement im Bereich der Erziehung von Kindern und Jugendlichen.
Im Zusammenhang der Wiederentdeckung der »Nützlichkeit der Religion« möchte ich unseren Blick noch auf ein dramatisches Ereignis der jüngsten Vergangenheit lenken, das unser Land bewegt, ja geradezu erschüttert hat. Ich meine den mörderischen Amoklauf des 17-jährigen Jugendlichen von Winnenden in Baden-Württemberg. Wie viele Menschen haben gespürt, dass ihnen die Sprache fehlt, nicht nur, um die Ungeheuerlichkeit einer solchen Tat zu beschreiben, sondern um Worte zu finden für die, die Opfer, Zeugen und Betroffene des Todeslaufes geworden sind. Nicht nur in Winnenden, auch an anderen Orten stellten Menschen, vor allem Jugendliche, Kerzen für die Opfer auf, beteten, versammelten sich zu gemeinsamen Gottesdiensten, um ihrem Entsetzen sowie ihrem Mitgefühl Ausdruck zu geben. Einmal mehr wurde deutlich, wie sehr religiöse Riten und Symbole Menschen gerade dort Hilfe sind, wo unser Denken, Fühlen und Sprechen an seine Grenzen gerät. Wird heute nach der Bedeutung oder gar Notwendigkeit von Religion für den freiheitlich-demokratischen Staat gefragt, so ist die Antwort selbst unter religionskritischen Zeitgenossen mehr als ein mildes Lächeln. Religion ist heute wieder ein ernstzunehmender Faktor.
(Ich vermute übrigens, dass dies zugleich mit ein Grund für einen derzeit wiedererstarkenden aggressiven Atheimus ist. Ebenso bin ich mir bewusst, dass Religion auch unter negativem Vorzeichen auf neue Weise ein ernst-zunehmender Faktor ist: nämlich dann, wenn sie dazu instrumentalisiert wird, polarisierende Wirkung in einer Gesellschaft zu entfalten.)
Aus kirchlicher Sicht heraus nehme ich zunächst einmal natürlich positiv wahr, dass das Thema Religion in der Öffentlichkeit nicht einfach tabu ist, sondern wieder eine erhöhte Aufmerksamkeit erfährt. (Darin sehen ja auch die Initiatoren des Volksbegehrens »Pro Reli« in Berlin trotz ihrer Niederlage einen Erfolg.) Ich bin erfreut darüber, dass neben dem ethischen Potenzial, das der Glaube der Gesellschaft bietet, auch seine rituelle Kompetenz neu wertgeschätzt wird. Dennoch muss ich ehrlich gestehen, dass die Wiederentdeckung der »Nützlichkeit« der Religion in mir zugleich einen inneren Zwiespalt hervorruft. Er hängt mit dem Proprium des christlichen Glaubens selbst zusammen: Denn christlicher Glaube ist ja nicht zuerst und vor allem ein System moralischer Lehren, und wären sie noch so hilfreich und gut. Christlicher Glaube ist erst recht nicht »Moral mit [rituellen] Ornamenten«, wie kürzlich der Erfurter Soziologe Hans Joas spitz formuliert hat. Die Kirche ist auch nicht zuerst und vor allem eine moralische Besserungsanstalt für die Gesellschaft, sondern die Gemeinschaft derer, die vor allem eigenen Tun das zuvorkommende Handeln Gottes bekennen und feiern. Alle Moral ist christlich gesehen Konsequenz aus der Freude über die befreiende Nähe Gottes. Der ethische Imperativ kommt an zweiter Stelle. An erster Stelle steht der Indikativ des Glaubens. Biblisch ausgedrückt: Vor der Aufforderung »Du sollst deinen Nächsten lieben« (Mt 19,19), steht die Zusage: »Du bist von Gott geliebt« (vgl. Kol 3,12).
(*) T. Ruster: Die verlorene Nützlichkeit der Religion, Paderborn 1994.
Indem der christliche Glaube von seinem Ursprung her Freude über die zuvorkommende Tat Gottes ist, verfolgt er keinen bestimmten Nutzen, ist er wesentlich unverzweckt, umsonst - »gratis data« im ursprünglichen Sinn des Wortes. Nun ist aber gerade das Unverzweckte, das in diesem Sinn »Ineffektive«, unserem vorherrschenden Lebensgefühl geradezu konträr, da wir so sehr vom Kosten-Nutzen-Denken geprägt sind und fixiert auf Ergebnisse, die möglichst kostengünstig und kurzfristig zu erzielen sind, aber zugleich nachhaltige Wirkung entfalten sollen. Grundlage und Ausgangspunkt des christlichen Glaubens ist hingegen die dankbare Freude über den Gott, der aus purer Liebe den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat und sich ihm in Jesus Christus absichtslos schenkt. In dieser unberechnenden Geste, die nicht auf Nützlichkeit schielt, liegt paradoxerweise die eigentliche Verheißung für den Menschen: Denn gerade durch sie bewahrt der Mensch, der von seinem Schöpfer nicht zu einem bestimmten Zweck erschaffen wurde, sondern seinen Sinn in sich hat, seine wahre Würde und Größe. Deshalb ist der Mensch besonders da zu achten und zu schützen, wo er leistungsschwach ist, unproduktiv, hilfsbedürftig. Wir wissen, dass dies vor allem am Beginn und am Ende des Lebens der Fall ist. Deshalb treten wir als Kirche für den Schutz des Lebens in diesen sensiblen Phasen besonders ein.
Unverzichtbare Voraussetzung dazu bleibt freilich, dass wir Räume bereithalten und bewahren, in denen dieser Glaube gefeiert, verkündet und weitergegeben werden kann. Wir haben den Schatz der vielen schönen Kirchen in unserem Land. Sie geben Zeugnis von der Größe Gottes und sind zugleich sprechende Symbole dafür, wie groß der biblische Glaube vom Menschen denkt. Doch alle Räume aus Stein verlieren ihren Sinn, wenn sie nicht Räume des Lebens und der gläubigen Beheimatung sind. In diesem Zusammenhang kann ich nicht verschweigen, dass mir die fortgesetzte abnehmende kirchliche Bindung vieler Gläubigen Sorge bereitet. Denn das ist klar: Ohne die regelmäßige Teilnahme an der Feier des Gottesdienstes, vor allem an der sonntäglichen Eucharistie, ohne die Beheimatung in den Inhalten des Glaubens, wie sie etwa in der Katechese vermittelt werden, und ohne die Teilnahme am kirchlichen Leben insgesamt kann keiner auf Dauer den Glauben bewahren. Klar ist aber auch: Nur vom gelebten Glauben her kann sich das christliche Ethos mit seinem Lebens- und Werteverständnis erneuern. Andernfalls wäre es - in einem plakativen Bild gesprochen – so, als ob man versuchte, unbegrenzt den ethischen und rituellen »Rahm« des Glaubens abzuschöpfen, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, dass der Milchtopf selbst sich immer mehr entleert ...
Dass die Kirchen sich füllen und der Glaube lebendig weitergegeben wird, steht selbstverständlich in der Verantwortung der Kirche. Das ist nicht Sache des Staates. Doch entspricht es unserem deutschen Staat-Kirche-Verhältnis durchaus, dass der Staat die Kirche in ihrem Auftrag unterstützt. In diesem Sinne bitte ich Sie weiterhin um Unterstützung nach Ihren Möglichkeiten. Ich denke etwa an den Sonn- und Feiertagsschutz, an die Förderung der Kooperationsmöglichkeiten im Bereich der Ganztagsschulen, an den Religionsunterricht und an die finanziellen Unterstützungen beispielsweise von Schulen, Kindergärten und Fachhochschule in kirchlicher Trägerschaft.
Wenn ich diese Bitte äußere, das möchte ich ausdrücklich sagen, geht es mir nicht darum, dass wir als Kirche eine exklusive Privilegierung innerhalb der Gesellschaft für uns beanspruchen möchten. Vielmehr ist es die Bitte um Unterstützung in einem Auftrag, der letztlich allen Menschen in unserem Land zugute kommt, wenn und in dem Maß, in dem der Glaube seine humanisierende und kultivierende Kraft entfalten kann.
In diesem Sinne danke ich der Regierung von Rheinland-Pfalz für die vielfach bewährte Kooperation. Ich bitte herzlich darum, diese fortzusetzen und verspreche sie meinerseits für mich sowie meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Darüber hinaus will ich Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, gerne auch mein persönliches Gebetsgedenken für Ihre verantwortungsvolle Aufgabe versprechen.