Seit einigen Tagen wird der Militärschlag einer internationalen Koalition gegen die militärischen Stellungen des Gaddafi-Regimes, der sich auf die Resolution 1973 des VN-Sicherheitsrats stützt, weltweit kontrovers diskutiert. Während die Aufständischen in Libyen diesen Einsatz feiern, sind in der arabischen Welt ernstzunehmende Stimmen zu hören, die ihre Sorge vor einem interventionistischen Übergriff des „Westens“ artikulieren. Die europäischen Staaten sind in dieser Frage gespalten. In der deutschen Diskussion liegt das Augenmerk aus naheliegenden Gründen auf der Entscheidung der Bundesregierung, sich beim Beschluss des Weltsicherheitsrats zur Einrichtung einer Flugverbotszone zu enthalten. Die Diskussionslinien in Deutschland verlaufen dabei jenseits der üblichen Parteiauseinandersetzung.
Die jüngsten Ereignisse, die wesentlich im Kontext der Veränderungen in der arabischen Welt zu sehen sind, scheinen einen tiefer liegenden Nerv getroffen zu haben. Es geht im Kern um die normativen Grundlagen der internationalen Ordnung. Dabei gilt es, sowohl die 2005 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen unter dem Titel „Responsibility to Protect“ bekräftigte Verpflichtung zum Schutz vor schwerwiegenden systematischen Menschenrechtsverletzungen als auch den restriktiven Umgang mit Gewaltmitteln, zu dem das generelle Gewaltverbot gehört, angemessen zu realisieren.
Die Befürworter eines militärischen Eingreifens begründen dieses mit der von der internationalen Schutzverpflichtung gedeckten Notwendigkeit, ein Massaker an der Bevölkerung von Bengasi zu verhindern sowie den Schutz der libyschen Zivilbevölkerung zu gewährleisten. Angesichts der eskalierenden Situation sowie der akuten Handlungsnotwendigkeit, die kaum zeitlichen Spielraum ließ, kann man den Beschluss zum Eingreifen nachvollziehen. Vieles spricht dafür, dass das Eingreifen der internationalen Koalition ein Massaker verhindert hat. Nichts desto minder werfen die näheren und weiteren Umstände des militärischen Eingreifens eine Reihe ernsthafter Fragen auf, die dieses Vorgehen in einem durchaus problematischen Licht erscheinen lassen und eine schlichte Billigung nicht zulassen.
Militärische Gewaltanwendung ist, wenn überhaupt, entsprechend der kirchlichen Friedenslehre nur als letztes Mittel legitimierbar. Angesichts der immer in Rechnung zu stellenden gravierenden Auswirkungen militärischer Gewaltanwendung, die zumal nur sehr begrenzt kalkulierbar sind, haben politische Einwirkungsmöglichkeiten den entschiedenen Vorrang. Hier sind allerdings erhebliche Versäumnisse zu beklagen. Es stellt sich die Frage, ob die Gewalteskalation, die zum Eingreifen der Koalition geführt hat, nicht durch frühzeitige und entschiedene politische Signale hätte verhindert werden können.
Die Politik der westlichen und speziell der europäischen Staaten gegenüber Libyen war lange Jahre doppelbödig. Trotz grundsätzlicher Vorbehalte gab es vielfach heikle wirtschaftliche und politische Kooperation. Dies zeigte sich zu Beginn der Krise erneut in der Zögerlichkeit beim Setzen ernsthafter politischer Signale. Dieses Verhalten hat wenig dazu beigetragen, der libyschen Regierung zu verdeutlichen, dass massive Gewalt gegen die eigene Bevölkerung seitens der westlichen Staaten nicht einfach hingenommen sondern mit ernsthaften Reaktionen verbunden sein würde. Diese offensichtlichen Versäumnisse mögen dazu beigetragen haben, dass manche Akteure in nachholender Entschiedenheit geradezu unbefangen für einen Militäreinsatz plädierten.
Auch wenn man die Notwendigkeit zu einem sofortigen Eingreifen in Rechnung stellt: Die Abstimmung über die politischen und militärischen Ziele und Vorgehensweisen zwischen den Beteiligten der internationalen Koalition war anfänglich hochgradig mangelhaft. Solches Vorgehen leistet Irritationen und Fehlleistungen Vorschub, denen ihrerseits Eskalationspotential innewohnt. Das wichtige Konzept der Schutzverpflichtung droht so beschädigt zu werden.
Unter den jetzigen Bedingungen muss es darum gehen, die Ziele der Gewalteindämmung und des Schutzes der Zivilbevölkerung glaubwürdig miteinander zu verbinden. Dies schließt eine klare Begrenzung des militärischen Vorgehens der agierenden Koalition ein. Eine weitere Eskalation der Gewalt ist zu verhindern. Einen an sich wünschenswerten Regimewandel in Libyen mittels der militärischen Unterstützung einer Konfliktpartei herbeizuführen, wäre weder vom Mandat des Weltsicherheitsrats noch von der kirchlichen Friedenslehre gedeckt.
Wir sollten uns zudem hüten, unseren Blick zu sehr auf die Vorgänge in Libyen zu verengen. Der gesamte arabische Raum ist in eine wahrscheinlich epochale Bewegung geraten. Das Engagement der westlichen Staaten ist nicht zuletzt in seinen Auswirkungen auf diesen Gesamtprozess zu betrachten. Die spürbare Dankbarkeit von Teilen der Bevölkerung in Libyen für den militärischen Schutz und Freude darüber sollten daher nicht dazu verleiten, die Sorge in der arabischen Welt zu unterschätzen, wesentliche Teile der westlichen Welt könnten zu einer Politik der Intervention zurückkehren. Sollte sich diese Sichtweise verfestigen, so wäre dies kontraproduktiv für die Demokratiebewegungen im arabischen Raum.
Vieles wird in den nächsten Wochen davon abhängen, mit welchem Ernst und Augenmaß in der nationalen und internationalen Diskussion die Schutzverpflichtung für die libysche Bevölkerung realisiert wird und welche konkreten Formen verlässlicher Solidarität mit den Menschen im arabischen Raum gefunden werden. Die Frage, wie die Bundesrepublik Deutschland im Bündnis dasteht und welchen Einfluss das deutsche Abstimmungsverhalten auf die Aussichten hat, einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat zu erhalten, ist dabei von nachgeordneter Bedeutung. Sie darf nicht ausschlaggebend sein für die ernste Frage nach dem Einsatz militärischer Mittel zum Schutz einer bedrohten Bevölkerung und zur Unterstützung der positiven Entwicklungen im arabischen Raum.
An den unterschiedlichen Reaktionen auf die militärische Intervention in Europa zeigt sich, dass es einen tiefgehenden Bedarf zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gibt. Nur wenn wir diese Meinungsverschiedenheiten vernünftig und nachdenklich austragen und in ihrer Struktur verstehen lernen, wird es gelingen, eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln, die diesen Namen verdient.