Liebe Schwestern und Brüder im Bistum Trier!
Jedes Jahr stellt das Evangelium des Ersten Fastensonntags eindringlich die Frage nach Gott. Jesus wird vom Teufel versucht. Der will sein Gottvertrauen schwächen, mehr noch: Der Teufel will Jesus ganz von Gott abbringen. Jesus besteht die Probe, ohne zu wanken. Allerdings klingt uns noch der letzte, irgendwie geheimnisvolle Satz des Evangeliums in den Ohren: »Nach diesen Versuchungen ließ der Teufel für eine gewisse Zeit von Jesus ab« (Lk 4,13).
Offenbar hatte Jesus nach diesem Geschehen in der Wüste solche Versuchungen nicht ein für alle Mal hinter sich. Jedenfalls legt der Evangelist Lukas dies nahe. Er macht damit deutlich, dass Jesus wirklich ganz Mensch ist: Denn Jesus lernt in seinen Versuchungen die Versuchung des Menschen kennen, an Gott vorbei zu denken, zu planen und zu handeln. Doch die Frage »Will ich mit Gott leben oder nicht?«, ist und bleibt die Grundfrage des Menschen. Sie ist zeitlebens nie ein für alle Mal beantwortet. Sie kann immer wieder neu aufbrechen, besonders in Situationen der Krise. Dann stellt sich die Frage nach Gott vielleicht noch grundsätzlicher: Ist Gott wirklich der Herr, dem alle Macht gegeben ist im Himmel und auf der Erde? Gibt es ihn überhaupt, oder ist er bloß ein Trugbild?
Man sagt, die Menschen seien heute wieder religiös ansprechbarer als noch vor einigen Jahren. Unüberhörbar ist aber auch die Stimme derer, die sagen: Es gibt keinen Gott. Sie ist sogar lauter geworden. Es gibt in unseren Tagen wieder einen feindseligen Atheismus. Mitunter macht er mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen von sich reden. Vielleicht erinnern Sie sich noch an den roten Doppeldeckerbus, der im vergangenen Jahr in einigen europäischen Großstädten unterwegs war mit der Aufschrift »Es gibt keinen Gott«, und: »Erfülltes Leben braucht keinen Glauben«. Wir mögen uns über solche Sprüche ärgern, andererseits aber können wir dafür auch dankbar sein. Denn eine solche Aktion fordert uns Glaubende heraus, Position zu beziehen.
Das hat übrigens auch schon Madeleine Delbrêl gesehen, eine der großen Gestalten des christlichen Glaubens im letzten Jahrhundert (1904-1964). Jahrzehntelang lebte sie als Sozialarbeiterin mit einigen Gefährtinnen in einem Vorort von Paris mitten unter Kommunisten, die erklärte Atheisten waren. Dabei gelangte Madeleine Delbrêl zu der überraschenden Überzeugung: Gerade die atheistische Umwelt ist »eine günstige Voraussetzung für unsere eigene Bekehrung«. Eine glaubenslose oder gar glaubens-feindliche Umgebung erlaubt es nämlich nicht, dass man als Christ einfach so vor sich hin lebt. Man ist herausgefordert, Rede und Antwort zu stehen.
Liebe Schwestern und Brüder! Sie werden verstehen, dass mich vor diesem Hintergrund solche Provokationen des Glaubens wie die »Atheistenbusse« nicht allzu sehr beunruhigen. Viel mehr beunruhigt mich die Beobachtung, dass es so etwas gibt wie einen schleichenden Verlust des Gottesglaubens. Er vollzieht sich nicht nur in der Gesellschaft insgesamt, sondern auch in unseren Gemeinden. Dabei ist es nicht so, als ob gar nicht mehr von Gott gesprochen würde. Doch es stellt sich die Frage, wie ernsthaft die Menschen tatsächlich noch mit der Gegenwart Gottes rechnen. Ist Gott für uns die Wirklichkeit, von der das Messbuch sagt, dass sie uns »umhüllt und durchdringt wie die Luft, die wir atmen, ohne die wir nicht leben können« (Tagesgebete zur Auswahl, Nr. 5)? Bringt dieses Gebet unser alltägliches Lebensgefühl zum Ausdruck? Ohne Zweifel haben sich frühere Generationen damit leichter getan. Für sie war Gott der unbestrittene Grund der Wirklichkeit.
Wir dagegen halten vor allem das für wirklich, was sichtbare Wirkungen hervorbringt und sich messen lässt. Wie sehr ist unser Denken auf Effektivität und Nutzen hin ausgerichtet! Wenn ein Gerät nicht funktioniert wie gewünscht, geben wir es zurück; wenn eine bestimmte Maßnahme nicht in absehbarer Zeit Erfolg zeigt, beenden wir sie; wenn ein Mensch nicht die erwartete Leistung bringt, schaut man sich bald nach jemand Leistungsfähigerem um.
Gott gegenüber gerät dieses Nutzen- und Erfolgsdenken an seine Grenze: Denn Gott ist nicht derjenige, der einfach Leistungen hervorbringt, die wir uns von ihm wünschen. Gott ist von seinem Wesen her der Unverfügbare. Sonst wäre er nicht Gott. Gottes Macht lässt sich nicht nach Gutdünken und für unsere Zwecke auf unsere menschlichen »Turbinen« lenken. Gott entzieht sich den Spielregeln einer durch und durch auf Funktionen ausgerichteten Welt. Das macht es für den Glauben nicht leicht: Denn wie soll er beweisen, dass er richtig und wichtig ist, wenn er keine berechenbaren Ergebnisse bringt?
Freilich können wir auf die vielen konkreten Aktivitäten der Kirche verweisen: im Bereich der Caritas etwa, in Erziehung und Bildung oder auch dort, wo die Kirche die freudigen wie die traurigen Anlässe im Leben der Menschen durch Gebet und Gottesdienst begleitet. Hier kommt der Glaube Menschen konkret zugute. Hier zeigt er gute Wirkungen, sogar für Menschen, die den Glauben nicht teilen.
So sehr dies stimmt, so sehr müssen wir uns davor hüten, der geheimen Versuchung nachzugeben, die in dieser Art der Rechtfertigung liegt. Es ist dieselbe Versuchung, der Jesus ausgesetzt war, als ihn der Teufel dazu anstiften wollte, aus Steinen Brot zu machen. Für sich genommen wäre das sicher eine gute Tat. Wer wollte das bestreiten? Sie beinhaltet aber selbst bei bester Absicht die Gefahr, den Glauben einem Nützlichkeitsdenken zu unterwerfen. Die Versuchung besteht darin, die Lücke zu füllen, die Gott anscheinend offen lässt, und beweisen zu wollen, dass der Glaube an Gott einen konkret messbaren Nutzen hervorbringt.
Liebe Schwestern und Brüder, wenn ich die vielfältigen Engagements in unseren Gemeinden, Verbänden und Institutionen sehe, frage ich mich manchmal, ob wir dieser Versuchung genug standhalten. Damit übersehe ich nicht, was durch die Kirche an Großartigem für die Menschen geleistet wird. Ich frage mich aber, ob in all dem genug sichtbar wird, dass unser Tun aus unserem Glauben an Gott hervorgeht. Einsatz für andere darf nicht Ersatz sein für den Glauben. Wollen wir durch unser christliches Engagement auch unseren Glauben zeigen? Anders gefragt: Würde unseren Gemeinden das Entscheidende fehlen, wenn es Gott nicht gäbe? Eine Kirche, die aussähe wie eine Unterabteilung der Vereinten Nationen für humanitäre Werte und gute Werke, wäre nützlich und hilfreich. Sie wäre aber nicht mehr die Kirche Jesu Christi.
Papst Benedikt hat vor einigen Jahren auf das Wesen der Kirche hingewiesen mit den Worten: »Wenn wir als Christen den Menschen weniger geben als Gott, geben wir ihnen zu wenig«. Natürlich wollte der Papst damit nicht sagen, dass man den Menschen Gott gibt wie ein Produkt, das man besitzt. Den Menschen »Gott geben« heißt für den Papst: den Menschen von Gott Zeugnis zu geben. Darin besteht der innerste Kern des christlichen Auftrags über alle guten Werke hinaus. Wenn wir den Menschen das Zeugnis Gottes vorenthalten, dann enthalten wir ihnen das Eigentliche vor, das wir ihnen zu geben haben und das nur wir ihnen geben können.
Dieses Zeugnis soll ein ehrliches Zeugnis sein. Wir brauchen nicht zu vertuschen, dass wir selbst oft genug Fragen, Versuchungen und Zweifeln ausgesetzt sind. Christliches Zeugnis lässt nicht ab von Gott, obwohl er sich immer wieder unserem Begreifen entzieht. Gerade dadurch aber stiften wir Hoffnung für die Menschen: Denn Gott, der sich unserem Kalkül von Nutzen und Erfolg entzieht, steht dafür ein, dass auch der Mensch, der nach seinem Bild geschaffen ist, mehr ist als die Summe seiner Funktionen und Leistungen.
Liebe Mitchristen! Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal zurückkommen auf das Gebet aus dem Messbuch, das ich bereits erwähnt habe. Es vergleicht die Gegenwart Gottes mit der Luft, die wir zwar nicht sehen, ohne die wir aber nicht leben können. Könnte darin nicht die Anregung liegen für eine kleine Fastenübung über die Vorsätze hinaus, die Sie vielleicht schon für die diesjährige Fastenzeit gefasst haben? Die Übung könnte darin bestehen, in den kommenden Wochen die alte Form des Stoßgebets bewusst für sich wiederzubeleben.
Ich meine damit, im Getriebe des Tages wenigstens eimal tief durchzuatmen und diesen Atemseufzer mit einem Gebet zu verbinden. Es könnte lauten: »Gott, du bist da. - Lass mich leben aus deiner Nähe«. Im Laufe eines jeden Tages bieten sich genügend Gelegenheiten zu einem solchen Gebet: vor einer roten Ampel, in der Warteschlange vor der Kasse, in der Erwartung eines Gesprächspartners am Telefon ... Wer solche Gelegenheiten ergreift, dem öffnen sich Türen aus der Enge des Alltags. Der begreift tiefer, dass alles im Leben mit Gott zu tun hat. Das aber ist die Überzeugung, von der auch Jesus erfüllt war. Wir Christen wollen ihm darin folgen.
Auf dem Weg dieser Nachfolge segne uns der allmächtige Gott,
+ der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen.
Ihr
Stephan Ackermann
Bischof von Trier