Von den vielen Zeugnissen, die ich von betroffenen Menschen in den Flutgebieten des Bistums und damit auch der Rheinischen Landeskirche gehört habe, hat sich mir eines ganz besonders eingeprägt: Eine Frau aus dem Ahrtal wurde gefragt, wie sie die Flutnacht erlebt und welche Gefühle sie dabei durchgemacht habe. Natürlich sei da viel Angst gewesen, so antwortete sinngemäß die Frau, vor allem aber habe sie „funktioniert“, um mit der Situation klarzukommen. Als dann am nächsten Tag spontan Helfer gekommen seien, die sie vorher überhaupt nicht kannte, da habe sie weinen müssen.
Ähnliche Szenen waren in anderen Berichten zu sehen: Da kommen Menschen aus Süddeutschland, um anzupacken. Mit Gummistiefeln und Schaufeln bewaffnet melden sie sich vor einem Haus, um dort aufzuräumen, und man bekommt mit, wie den Bewohnern bei der Begrüßung vor Rührung die Stimme bricht.
Was ist das eigentlich, das da so berührt – selbst mich als Zuschauer aus der Ferne? Ich glaube, es ist die Mischung zwischen dem ganz selbstverständlich Menschlichen der Hilfsbereitschaft einerseits und dem Gefühl, dass das, was so selbstverständlich scheint, gerade in unserer Welt ganz und gar nicht selbstverständlich, ja geradezu unerwartbar ist. Deshalb ist diese Erfahrung groß und berührend.
„… das tut auch ihnen“ – so das Leitwort über unserem diesjährigen Gottesdienst zum Buß- und Bettag. Es ist der zweite Teil der Goldenen Regel, wie sie sich in der Bergpredigt Jesu findet: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ (Mt 7,12) Die Goldene Regel ist keine Erfindung Jesu. Die Goldene Regel gehört zum Weisheitsschatz der Völker. Sie findet sich in Europa ebenso wie in asiatischen Traditionen. Meistens allerdings in der negativen Formulierung, wie wir sie auch aus dem Volksmund kennen: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu.“ Jesus dagegen formuliert sie positiv.
Und trotzdem bleibt die Goldene Regel an sich irgendwie abstrakt –„Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut auch ihnen!“ … Damit ist inhaltlich noch nicht viel gesagt. Konkret wird das Gemeinte erst in konkreten menschlichen Begegnungen, wie etwa den eben geschilderten. In solchen Begegnungen erhält die Goldene Regel konkret Gesicht.
Die Begegnung von einander wildfremden Menschen hat in den von der Flut betroffenen Regionen eine für uns ungewohnte Intensität gezeigt. Sie galt für beide Seiten: Nicht nur diejenigen, denen die Hilfe geschenkt wurde, waren zu Tränen gerührt, sondern auch die Helferinnen und Helfer, die sich vom Geschick der Flutopfer haben berühren lassen.
Die Intensität dieser Begegnungen erinnert mich an die Überlegungen des bekannten französischen Philosophen Emanuel Lévinas (1906-1995): Für Lévinas ist das Ich nicht denkbar ohne das Du, das zugleich immer „der Andere“ ist. Dieser Andere – vor allem sein Gesicht, sein Antlitz und seine Stimme – reißen mich heraus aus meiner Selbstbezogenheit, nehmen mich existenziell in die Pflicht. Ich kann und darf mich dem Anderen nicht entziehen. Subjektsein heißt nicht autonomer Selbstbesitz, sondern ist vor allem ein Dem-Anderen-Unterworfensein im ursprünglichen Sinn des Wortes „Sub-jekt“. Der Andere, gerade der Bedürftige, darf mich in Anspruch nehmen. Das ist die Grundwahrheit des menschlichen Lebens und jeder Beziehung. Das ist zugleich der Ausgangspunkt für jede Form menschlicher Solidarität.
Emanuel Lévinas war zwar von der jüdischen Tradition her inspiriert war, aber er selbst hat seine Philosophie nicht religiös verstanden. Als Christen müssen wir natürlich unwillkürlich an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) denken: Im Unterschied zum Samariter gehen der Priester und der Levit an dem Geschlagenen am Wegesrand vorbei. Von allen drei heißt es, dass sie den Schwerverletzten „sahen“. Doch nur der Samariter lässt sich von dessen Anblick betreffen und in die Pflicht nehmen. So heißt es von ihm: „er sah ihn [den Mann] und hatte Mitleid.“ Wollte man das „Mitleid“ noch genauer aus dem Griechischen übersetzen, müsste man sagen: Der Samariter sah den Mann, und es traf ihn „bis in die Eingeweide“, „bis ins Mark“.
Papst Franziskus hat diesem Gleichnis in seiner Sozialenzyklika „Fratelli tutti über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft“ ein ganzes Kapitel gewidmet. Mehr noch: Im Grunde bildet dieses Gleichnis den biblischen Dreh- und Angelpunkt der gesamten Enzyklika. Dabei meinen die Begriffe „Geschwisterlichkeit“ und „soziale Freundschaft“ keine exklusiven Beziehungen, wie wir sie in der Familie oder in engeren Freundschaften mit ausgesuchten Menschen kennen. „Soziale Freundschaft“ und „Geschwisterlichkeit“ meinen im Papstschreiben eine umfassende menschliche Solidarität.
Eine solche Solidarität ist, das wissen wir, ein Herzensanliegen von Papst Franziskus: Von daher ist der Text nicht nur an die Katholiken oder die Christen adressiert, sondern an alle Menschen guten Willens (FT 6).
Bleiben wir noch ein wenig beim Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Und ich denke, es ist in ökumenischer Geschwisterlichkeit erlaubt, einige Gedanken des Papstes zum Gleichnis aufzugreifen, die uns helfen können, den Buß- und Bettag als Gelegenheit zur Einkehr und zur Umkehr zu nutzen.
Liebe Schwestern und Brüder, lassen Sie mich noch einen persönlichen Gedanken anfügen: Für Emanuel Lévinas ist es vor allem das Antlitz, das Gesicht des Anderen, das uns Menschen aus dem Kreisen um uns selbst herausreißt. Kein Wunder. Denn im Gesicht eines Menschen verdichtet sich in besonderer Weise dessen Persönlichkeit. Umso bezeichnender finde ich es, dass schon die Psalmen nicht nur bei Menschen und bei Gott vom Antlitz sprechen. Nein, das Psalmenbuch spricht auch vom „Antlitz“ der Erde. Wir kennen die Stelle: „Sende aus deinen Geist, und das Antlitz der Erde wird neu!“, so rufen wir mit Psalm 104 (V. 30), besonders am Pfingstfest.
Angesichts des mühsamen Ringens um die Bewahrung unserer Schöpfung (denken wir nur an den am Wochenende zu Ende gegangenen Weltklimagipfel von Glasgow!) wird mir das Wort vom „Antlitz“ der Erde immer wichtiger. Es sind nicht nur die Gesichter von Menschen, die uns in die Pflicht nehmen. Es ist auch das Angesicht unserer Erde mit allen ihren Geschöpfen, das uns zur Verantwortung ruft. Denn unsere Erde ist ja nicht bloß blinde Materie, nicht bloß Material für unsere Zwecke. Die Erde mit ihren Geschöpfen hat ihre eigene Einmaligkeit, Würde – ja Schönheit. Für mich drückt sich das aus im Psalmwort vom „Angesicht“ der Erde. Dabei kannte der Psalmbeter noch nicht einmal den atemberaubenden Blick auf die Erde, den wir heute aus der internationalen Raumstation ISS haben! Mit diesen Bildern vor Augen versteht man intuitiv das Wort vom „Antlitz“ der Erde. Entstellen wir dieses Antlitz nicht!
Liebe Schwestern und Brüder, kehren wir zum Schluss noch einmal zurück zu den Menschen in den Flutgebieten. In den Pressemeldungen der letzten Zeit habe ich gelesen, dass das Dekanat Ahr-Eifel zu einer ungewöhnlichen Aktion aufgerufen hat: Im Zugehen auf Advent und Weihnachten werde vielen Menschen bewusst, dass auch die geliebte Krippe der Familie unwiederbringlich zerstört oder verloren ist. Zugleich gebe es viele Menschen in Deutschland, die gerne weiter helfen möchten. Das Dekanat will eine Brücke bauen zwischen Menschen, die eine Krippe hergeben können und denen, deren Krippe in der Flut weggeschwemmt wurde. Menschen, die sich eine Weihnachtskrippe wünschen und solche, die eine Krippe herschenken möchten, können sich beim Dekanat melden. Durch diese Aktion können Krippen eine neue Herberge an der Ahr finden.
Als ich davon las, hat mich die Idee beeindruckt. Denn in unseren Krippendarstellungen verweben sich auf unvergleichliche Weise Schöpfungs- und Heilsgeschichte: Krippen sind ja nicht Darstellungen des Paradieses, das uns verloren gegangen ist. Krippen sind Bilder der geheilten Schöpfung. Denn in ihnen finden sich ja in der Regel nicht nur menschliche Figuren, sondern auch Tiere, eingebettet in eine Landschaft. Zur geheilten Schöpfung gehören neue Beziehungen unter den Menschen, gelebt in Freiheit, Verantwortung und Liebe. Zur geheilten Schöpfung gehören aber mit den Menschen ebenso die Mitgeschöpfe auf der von Gott erschaffenen Erde.
Ich weiß nicht, ob die Initiative des Dekanates Ahr-Eifel Zuspruch finden wird. In jedem Fall aber sind Weihnachtskrippen nicht nur dazu geeignet, ein Stück emotionale Heimat in einer verlorenen Welt zu geben. Sie sind zugleich Trostbilder, die von ihrer Botschaft her keinen billigen Trost anbieten, sondern für uns Vision und Verpflichtung bedeuten.
„Alles was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“, hat Jesus gesagt – und selbst vorgelebt. Amen.