Liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
Lassen Sie uns noch einmal an den Anfang der Passionserzählung zurückgehen. Ja, noch vor die Ereignisse, die uns vom Evangelisten Johannes berichtet werden. Denn er setzt unmittelbar ein mit der Gefangennahme Jesu. Die anderen drei Evangelisten berichten noch von dem eindringlichen Gebet Jesu im Garten Getsemani. Und sie betonen, dass Jesus in dieser Situation von Angst und Traurigkeit ergriffen wurde (Mt 26,37), ja dass er angesichts dessen, was er auf sich zukommen sieht, in Blutschweiß ausbricht (Lk 22,44). Ganz offen und eindringlich bittet er den Vater darum, dass wenn möglich der bittere Kelch des Leidens an ihm vorbeigehen möge (Mt 26,39/ Mk 14,36/ Lk 22,42).
Das Gebet wird nicht erhört. Der Todeskelch geht an Jesus nicht vorüber. Er muss ihn trinken bis zur Neige.
Wie oft hat sich diese Situation seitdem wiederholt. Wie oft mussten Menschen ganz Ähnliches erleben! Wie viele Gebete, wie viele Hilfeschreie zu Gott wurden seitdem nicht erhört - von Menschen, die in Todesgefahr waren. Ausleger der Stelle sagen, dass die Angst und Erschütterung, die Jesus am Ölberg ergreift, nicht bloß Angst um sich selbst war. Nein, er, der ganz Mensch für die anderen war und ist, sah in dieser Situation gewissermaßen all diese Situationen vor sich, in die Menschen im Laufe der Menschheitsgeschichte noch kommen würden: die Angst der Verratenen, der unschuldig Verurteilten, der von anderen Gequälten, aber auch all derjenigen, die nicht mehr ein noch aus wissen, die keinen Ausweg mehr für ihr Leben oder das Leben anderer sehen, aus welchen Gründen auch immer.
Wie viele werden es heute, in dieser Stunde wieder sein, wenn wir nur an die Krisen- und Kriegsgebiete unserer Erde denken, an die Ukraine, an Syrien: an die Menschen im Land selbst, aber auch an die Familien, die fliehen konnten, aber sich nun in Lagern in Jordanien, im Libanon oder in der Türkei aufhalten und nicht wissen, wie es weitergeht. Denken wir an die Christen, die die Kar- und Ostertage vielleicht nur unter Lebensgefahr feiern können, weil sie von Fundamentalisten und Terroristen bedroht werden: im nördlichen Afrika, im Mittleren Osten, aber auch in Asien.
Die Karfreitagsliturgie kann man nicht als bloß persönliche Frömmigkeitsübung feiern. Wir feiern sie nur richtig, wenn wir sie mit weitem Herzen feiern, diejenigen einbeziehend, deren Herz von Angst zusammengepresst ist: ob sie nun weiter weg leben oder in unserem nahen Umfeld.
Wir dürfen also den Karfreitag nicht mit einem engen Herzen feiern, aber wir dürfen ihn feiern mit einem Herzen, das fragt nach der Wirksamkeit des Gebetes. Denn Sie selbst, liebe Schwestern und Brüder, mögen es auch schon mehr als einmal erlebt haben, dass Sie für sich selbst oder für andere zu Gott gebetet haben und Ihre Bitte nicht erhört wurde: Eine Krankheit konnte doch nicht geheilt oder wenigstens gestoppt werden; jemand bekam doch nicht die erhoffte Arbeitsstelle; der Streit, um dessen Ende ich gebetet hatte, löste sich nicht, die Beteiligten blieben gegeneinander verschlossen.
Sind das offene Herz und das Gebet also letztlich doch sinnlos, wenn Gott es nicht erhört? Denn entweder erhört Gott es nicht, weil er nicht die Macht dazu hat. Oder: Er hat die Macht, aber er will das Gebet nicht erhören. Wozu ihn dann trotzdem bitten? Ist das Gebet dann nicht umsonst?
Und warum fordert Jesus seine Jünger ausdrücklich zum Beten auf, gerade auch zum Bittgebet? Wie kann er zu den Aposteln im Abendmahlssaal sagen: „Wenn ihr in mir bleibt und wenn meine Worte in euch bleiben, dann bittet um alles, was ihr wollt: Ihr werdet es erhalten“ (Joh 15,7). Dabei wird er selbst vom Vater in der dramatischen Situation am Ölberg nicht erhört. Widerspricht sich da nicht Jesus selbst?
Es wäre so, wenn da nicht der Zusatz wäre, mit dem das Gebet Jesu endet: „Vater, nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe!“ Es stimmt, dass Jesus am Ölberg darum betet, vor dem Schlimmsten bewahrt zu werden. Die Bitte ist verständlich und legitim – sogar für den Sohn Gottes, und sie zeigt, dass er ganz Mensch ist. Aber seine Bitte ist keine geschlossene Bitte. Sie ist nicht absolut gesetzt. Jesus öffnet sie, überlässt ihre Erfüllung Gott, indem er ergänzt: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst“ (Mt 26,39).
Liebe Schwestern und Brüder! Im Glauben dürfen, ja sollen wir felsensfest davon überzeugt sein (vgl. Mk 11,24), dass jedes Gebet gehört wird. Aber die Weise der Erhörung kann weit von dem entfernt sein, was wir erbitten. Es geschieht auf unser Gebet hin vielleicht etwas, von dem wir keine Ahnung haben. Die Erhörung des Gebetes – so bezeugen es auch die Meister des geistlichen Lebens und die Heiligen - kann oft auf einer ganz anderen Ebene liegen, als wir es uns vorgestellt haben. Das soll uns nicht daran hindern, Gott zu bitten.
Man wagt es kaum auszusprechen, und doch müssen wir sagen: Wie gut, dass Gott die Bitte Jesu, bewahrt zu werden, nicht erhört hat! Denn Gott, der Vater, hat die Bitte auf einer ganz anderen Ebene erhört und damit viel mehr geschenkt, als wir Menschen uns jemals hätten ausdenken können: Durch den Tod hindurch hat er nicht nur Jesus das Leben neu geschenkt, sondern allen Menschen!
Ohne die Katastrophe und den Schmerz des Karfreitags gäbe es kein Ostern, jedenfalls nicht in der Weise, wie wir es kennen. Hätte der Vater das Gebet Jesu wörtlich erhört, wäre einer bewahrt worden: der Gottes- und Menschensohn. Die große, universale Hoffnung auf Leben aber, die mit Ostern allen Menschen geschenkt ist, die wäre uns verwehrt geblieben. Und: Wenn der Vater das Gebet Jesu wörtlich erhört hätte, dann hätte die Botschaft Jesu nicht beweisen können, dass sie wirklich auch den tiefsten Grausamkeiten, Dunkelheiten und Ausweglosigkeiten des menschlichen Lebens standhält, ja sie sogar besiegt und überwindet.
Ostern ist die große Gebetserhörung Gottes, des Vaters, gegenüber seinem Sohn Jesus. Aber diese Erhörung liegt auf einer Ebene. Sie ist von einer ganz unerwarteten Qualität. Freilich, Jesus blieben die Angst, das Dunkel des Todes und die Schmerzen nicht erspart …
Und so sind auch uns Ängste und Schwierigkeiten nicht weggenommen. Wir sind nicht davor geschützt, dass wir uns in konkreten Situationen unseres Lebens schwertun mit dem Glauben daran, dass Gott jedes Gebet erhört, auch wenn wir davon nichts sehen können. Mit dem Glauben verschwinden eben nicht einfach die Ängste und Zweifel, auch wenn wir wissen, dass Ostern kommt. Gerade am Karfreitag kann uns deutlich werden, dass Glauben immer wieder heißt: Gegen den eigenen Unglauben zu glauben, zu hoffen gegen alle Hoffnung … (vgl. Röm 4,18).
Wir feiern Karfreitag, um unseren Glauben festigen zu lassen gegen unsere Zweifel und in unseren Zweifeln. Deshalb feiern wir Karfreitag, lassen uns zu Herzen reden vom Gekreuzigten, der sagt: „Ich kenne deine Fragen und Zweifel sehr gut. Ich kenne sogar deine Angst, aber glaube mir: Mein Vertrauen in Gott, den Vater, ist nicht enttäuscht worden. Er hat mich errettet. Er hat es so getan, dass ich zum Rettungsanker für alle Menschen werden konnte. Hätte er mich vor dem Tod bewahrt, so wäre nur ich gerettet worden. So aber bin ich zur Rettung für alle, auch für dich geworden.“
Liebe Schwestern und Brüder! Wir feiern den Karfreitag nicht so, als ob wir ihn schon ein für alle Mal verstanden hätten und nun beruhigt in der Kirchenbank sitzen könnten, um dem Ganzen zuzuschauen. Es kann sogar sein, dass Ihnen die Botschaft des Karfreitags in früheren Jahren einleuchtender war, als sie es heute ist. Zweifel können wachsen. Wir sind innerlich nicht einfach auf der sicheren Seite. Es gibt keine Automatik des Glaubens.
Wir feiern Karfreitag in der Haltung der Frage, der Bitte, vielleicht auch des bangen Herzens und mit angehaltenem Atem. Aber gerade so begehen wir den Karfreitag richtig. Amen.