Schriftlesungen: Offb 11,19a; 12,1 etc./ 1 Kor 15,20-27a/ Lk 1,39-56 (Aufnahme Mariä in den Himmel)
Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt,
liebe Mitbrüder aus der Ökumene,
liebe Festgemeinde,
Schwestern und Brüder im Glauben!
Nun ist es also tatsächlich so weit: Nach einer vierjährigen umfassenden Renovierungsphase stehen die Portale der Liebfrauenkirche wieder offen, und wir finden uns in einem Raum, der uns mit seinen architektonischen Formen und dem Licht, das ihn erfüllt, auf ganz sinnenfällige Weise umfängt!
Als unmittelbarer Nachbar von Liebfrauen durfte ich den Fortschritt der Arbeiten unmittelbar mitverfolgen: durch das Summen der Staubsauger, das metallische Geräusch der Gerüste und schließlich in den letzten Wochen durch den Klang der Chorproben. In dieser Stunde gratulieren wir den Angehörigen der Pfarrei Liebfrauen, ihren Gremien, dem Fachbeirat des Projekts, den beteiligten Architekten, Planern und Firmen, und allen voran dem Pfarrer von Liebfrauen, Domkapitular Hans-Wilhelm Ehlen! Wir vergessen auch die Förderer nicht und danken allen Zuschussgebern, gerade auch aus dem öffentlichen Raum, vor allem auf der Ebene von Bund, Land und Stadt.
Liebe Festgemeinde, Schwestern und Brüder, lassen Sie uns hineinhören in die biblischen Lesungen und mit ihnen diesen Kirchenraum durchwandern. Denn die Schrifttexte vom Hochfest der Himmelfahrt Mariens, der Patronin dieser Kirche, und die Gestaltung der Liebfrauenkirche erhellen sich gegenseitig auf ganz wunderbare Weise.
Schon der Trierer Weihbischof Johann Enen hat zu Beginn des 16. Jahrhunderts von dieser Kirche geschwärmt, indem er Bezug nahm auf den rosenförmigen Grundriss, auf dem die Kirche erbaut ist, und immer wieder haben sich die Beter und Bewunderer dieser Kirche von diesem Motiv inspirieren lassen. So legte es sich nahe, die jüngste Renovierung unter das Leitwort zu stellen »Die Rose neu erblühen lassen«. Dass die Rose, zumal in ihrer roten Farbe, das Symbol der Liebe ist, bedarf keiner weiteren Erklärung. Wie ist es aber nun mit Maria und der Rose? Wie gehören sie zusammen? Um die Verbindung zu verstehen, müssen wir uns erinnern an den Paradiesgarten, Ausdruck des guten Schöpfers und der ursprünglichen Harmonie zwischen Gott und Mensch. Die einzig angemessene Haltung des Geschöpfs gegenüber seinem Schöpfer heißt nach der Bibel grenzenloses Vertrauen, also die Haltung des Menschen, der sich in der Hand dessen, der alles erschaffen hat, geborgen weiß.
Wir wissen, wie schnell dieses Urvertrauen zerbrochen ist. Der Mensch reißt sich auf die Einflüsterung der bösen Schlange hin los von Gott, weil er der Meinung ist, dass die Emanzipation vom Schöpfer Freiheit und wirkliches Leben bringt. Ein fataler Fehler: Auf Distanz zu Gott - dem Urheber des Lebens - zu gehen, bedeutet Tod, nicht Leben. Die Tat Adams und Evas wird deshalb fortan die Existenz des Menschen belasten. In diesem Sinn kann Paulus die rätselvoll klingende Aussage formulieren, dass »durch einen Menschen der Tod kam« (1 Kor 15,21). An entscheidender Stelle, schon ganz früh hat sich der Mensch gegen Gott entschieden. Die Folgen sind unabsehbar. Das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf hat einen fundamentalen Riss bekommen. Geheilt werden kann dieser Riss nur dadurch, dass Gott das Band von sich aus neu knüpft und dass sich Menschen finden, die dieses Band aufnehmen und in den Bund mit Gott eintreten. Das ist die Geschichte Israels, angefangen vom Bund, den Gott mit Abraham und Mose schließt. Wie oft aber werden sich neue Risse einschleichen, wird Israel das Band kappen, den Bund aufkündigen und allein auf die eigenen Kräfte vertrauen.
Schließlich findet Gott einen Menschen, ja eine Tochter Israels, mit der er einen neuen Anfang setzen will und kann: Maria. Wegen dieses Neuanfangs nennen wir Maria auch die neue Eva. Indem Maria sich nach anfänglichem Erschrecken vorbehaltlos auf die Botschaft des Engels einlässt und vertraut, dass Gott es gut mit ihr, ja mit der ganzen Menschheit meint, kommt ihr Leben zu einer unvergleichlichen Blüte, trägt es einzigartige Frucht: Jesus Christus, den Gottes- und Menschensohn.
Marias Lebensgeheimnis heißt: Gott groß sein lassen. So besingt sie es auch im Magnificat bei ihrer Verwandten Elisabet: Meine Seele preist die Größe des Herrn (Lk 1,46) oder richtiger, wie es in einem modernen geistlichen Lied heißt: Groß sein lässt meine Seele den Herrn. Darin liegt ja bis heute unser sündiger und zugleich tödlicher Trugschluss, dass wir glauben: Je mehr Raum Gott im Leben eines Menschen einnimmt, umso kleiner werden der Mensch und seine eigenen Entfaltungsmöglichkeiten. Die Heiligen, allen voran Maria, zeigen, dass das Gegenteil wahr ist: Je mehr ein Mensch Gott in sein Leben einlässt, je gottverbundener er lebt, umso mehr wird sein Leben wachsen, sich entfalten, aufblühen und Frucht tragen. »Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch. Denn getrennt von mir könnt ihr keine Frucht bringen«, sagt Jesus seinen Jüngern (Joh 15,4f). Maria ist nicht nur die Mutter, sondern auch Jüngerin Jesu. Das ist das Geheimnis, aus dem die Rose erblüht.
Liebe Mitchristen, erheben wir nun den Blick vom Bodengrundriss weg in die Höhe: An mehreren Stellen findet sich in Liebfrauen das Bild Mariens, das die erste Lesung aus dem Buch der Offenbarung von Maria zeichnet: die himmlische Frau, von der Sonne umkleidet, von Sternen umgeben, den Mond unter ihren Füßen (Offb 12,1). Es ist ein hoheitliches Bild, doch von seinem Ursprung in der Apokalypse her, ein ganz und gar nicht beruhigendes Bild. Im Gegenteil: Es ist voll lebensbedrohlicher Dramatik: Die Frau, erst in Wehen, dann gebärend, also in höchster Wehrlosigkeit, bedroht von einem siebenköpfigen Drachen, der das Kind verschlingen will und seinen Schwanz wie eine gigantische Sense einsetzt, die Tod und Verderben bringt (Offb 12,3f). Hier in Liebfrauen wird die Dramatik der Szene am ehesten sichtbar im oberen Glasfenster der Westfassade, wo sich zu den Füßen der Frau mit ihrem Kind eine Schlange mit weit geöffnetem Rachen und langem Schwanz windet.
Für den Seher der Apokalypse so wie für die Hörer und Leser zur Zeit ihrer Abfassung war die Bedeutung der Symbolik klar: Sie sahen in dem Drachen die Macht der antichristlichen römischen Kaiser von Nero bis Domitian. Die Macht des Römischen Reiches schien übermenschlich zu sein, in militärischer, politischer und propagandistischer Hinsicht. Dagegen kamen sich die jungen Christengemeinden wehrlos und ohnmächtig vor wie die Frau der Apokalypse, die mit ihrem ebenfalls wehrlosen Kind nach einem Zufluchtsort sucht, an dem sie in Sicherheit leben kann. Im Bild der Frau, liebe Schwestern und Brüder, erkannten also die frühe Christen nicht nur Maria, die Mutter Jesu, als individuelle Person. Nein, sie sahen in ihr auch das Bild ihrer eigenen Situation, sahen in ihr eine Verkörperung der verfolgten Kirche.
Für uns heute stellt sich die Situation verändert dar. Ja, sie änderte sich schon damals relativ bald. Das schier Unglaubliche geschah: Die »wehrlose Frau der Offenbarung« siegte. Die Kaiser selbst gewährten ihr Zuflucht bei sich (Offb 12,6a). Ohne die Hinwendung der römischen Kaiser zum Christentum, insbesondere Kaiser Konstantins, hätte es auch die Trierer Doppelkirchenanlage nie gegeben, und wir ständen heute wohl nicht in dieser Kirche, die sich über den Fundamenten der ehemaligen antiken Südbasilika erhebt.
Dennoch ist die Kirche auch heute an vielen Stellen bedroht, bilden Christen die größte Gruppe derjenigen, die aus religiösen Motiven verfolgt werden, bis heute. Und selbst in den freiheitlichen Gesellschaften des Westens gibt es Menschen, die der Überzeugung sind, dass es für die Welt besser wäre, wenn die Kirche und der Glaube an Jesus Christus hinweggefegt wären. Und freilich bleibt die Kirche irgendwie immer auch in Geburtsschmerzen, ringt sie selbst darum, dass Christus den gebührenden Platz hat in ihr und in der Welt. Die Kirche leidet Geburtsschmerzen, dass Christus gleichsam immer wieder neu zur Welt kommen und von den Menschen gefunden werden kann.
Im Gewölbe des Ostchors findet sich - entrückt und doch als klarer Orientierungspunkt - die himmlische Frau wieder. In dem wiederentdeckten Deckengemälde ist sie aller Dramatik entkleidet. Ruhig steht sie mit ihrem Kind da, siegreich. Geradezu tänzerisch-leicht steht sie dort auf der Mondsichel. Damit hat unser Blick nun das Gewölbe erreicht, und ist sozusagen wieder im Paradiesgarten angekommen. Dafür steht das üppige Ranken- und Blütenwerk des Gewölbes. Nach der Dramatik der Heilsgeschichte schließt sich der Kreis. Zum Schlussbild der Apokalypse und damit der ganzen Heiligen Schrift gehören die Bäume und Pflanzen, die zwölfmal im Jahr Früchte tragen und sämtlich Heilpflanzen sind (Offb 22,2f). Das Gift des Todes ist besiegt.
Doch das Erstaunliche ist, dass sich die Pflanzen nicht irgendwo in freier Natur befinden, sondern in der himmlischen Stadt mit ihren Mauern, die auf dem Zeugnis der Apostel gegründet sind und ihren Toren, auf denen die Namen der zwölf Stämme Israels stehen (Offb 21,12ff). Im Schlussbild des biblischen Glaubens holt sich nicht die Natur alles wieder zurück, steht nicht Re-Naturierung. Nein, Schöpfung und Zivilisation, Natur und Kultur sind versöhnt. Für mich heißt das, dass auch die Geschichte des Menschen, alle positiven Errungenschaften, insbesondere aber die Glaubensgeschichte des Gottesvolkes, eingehen in den Zustand der ewigen Vollendung.
Wenn unser Blick nun aus dem Gewölbe wieder hinuntergleitet, dann sehen wir sofort, dass Liebfrauen uns einen Vorgeschmack der himmlischen Stadt geben will, die bergend ist mit ihren Mauern und zugleich offen und einladend mit ihren Toren, die in alle Himmelsrichtungen weisen, und mit der Transparenz ihrer Glasfenster. »Eine Leuchte braucht die Stadt nicht, denn ihre Leuchte ist das Lamm.« (Offb 21,23). Es ist die Mitte der Stadt. Wir sehen es hier auf dem von Rudolf Schwarz geschaffenen Altar, der im Zentrum dieses Raumes steht.
Liebe Schwestern und Brüder! Der Bischof von Trier ist mit seinem Haus zwar unmittelbarer Nachbar von Liebfrauen, aber die Kathedrale des Bischofs ist der Dom. Das ist nicht nur historisch richtig so, sondern wohl auch von der Sprache der Architekturen her, die die beiden Räume prägt. Der Dom, so kommt mir immer wieder vor, wenn ich zum Gottesdienst einziehe, steht vor allem für den Weg des Glaubens und der Kirche: Der Blick geht über den Altar auf das goldene Kreuz, das in der Heilig-Rock-Kapelle hängt. Das sagt mir: Wir gehen als Volk Gottes auf Jesus Christus zu. Wir sind gemeinsam unterwegs. Das ist unsere aktuelle Situation. Wir sind pilgernde Kirche. Im kommenden Jahr werden wir es im Dom wieder ganz konkret erleben. Liebfrauen dagegen ist ein Bau, der klar auf eine Mitte hin zentriert ist. Deshalb steht die Liebfrauenkirche mehr für das Ankommen, das Verweilen, das Bleiben, das Ziel: die himmlische Stadt, die unverstellte Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen.
Wie dankbar dürfen wir sein, dass wir diese Räume mit ihrer Botschaft so nahe beieinander haben, verbunden durch das sogenannte Paradies! So bleibt uns immer beides im Blick: der Weg und das Ziel unseres christlichen Lebens. Amen