Liebe Mitbrüder, liebe Pilgerinnen und Pilger,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
heraus gerufen – Du hast mehr verdient! so lautet das Leitwort unserer diesjährigen Heilig-Rock-Tage. Als ich es zum ersten Mal gehört habe, hat es mich irritiert. Und vielleicht empfinden Sie ja auch ähnlich. Du hast mehr verdient!: Klingt das nicht nach dem Werbeslogan eines Reiseveranstalters, der für die „kostbarsten Wochen des Jahres“, wie es immer heißt, wirbt? Man sieht förmlich ein Plakat vor sich, das ein Paar zeigt am Frühstückstisch auf dem Balkon eines Hotels und darunter eine lärmige, vierspurige Straße: Du hast mehr verdient! – Oder: Eine Familie, die vor ihrer Ferienwohnung in den Liegestühlen liegt und umgeben ist von Presslufthämmern und Baumaschinen: Du hast mehr, ihr habt mehr verdient! …
Aber wie passt das Leitwort zu einem Glaubensfest wie den Heilig-Rock-Tagen? Was wir im Glauben feiern – die Gnade Gottes, seine Zuwendung und Liebe –, können wir uns ja gerade nicht verdienen. Davon sind wir überzeugt. Wie Gott sich uns in Jesus Christus zuwendet, ja sein Leben für uns hingibt, das haben wir nicht verdient. Kein Mensch kann doch sagen: „Ich habe mir Gottes Nähe redlich verdient. Mit dem, was ich alles schon getan habe, habe ich nicht weniger als den Himmel verdient.“
Nein, liebe Schwestern und Brüder, so können wir nicht sprechen. Aber Gott, der uns nach seinem Bild geschaffen hat, kann sagen: „Mensch, du hast mehr verdient als das, was du aus dir machst. Mensch, du hast mehr verdient als die anderen dir geben! Mensch, du hast mehr verdient, als die anderen in dir sehen!“ Unser diesjähriges Leitwort spricht also von der Würde des Menschen, der nach dem Abbild Gottes geschaffen ist. Es sagt: Mensch, denke nicht zu klein von dir selbst! Denn du bist mit einzigartiger Würde beschenkt und wertvoll. Achte auf diese Würde, verschleudere sie nicht!
Unsere Diözesansynode hat sehr entschieden den Blick auf die Menschen gerichtet, nicht nur auf die Menschen in der Kirche, in unseren Pfarreien, sondern auch auf die Menschen, mit und unter denen wir leben. Dazu ruft uns die Synode heraus. In diesem Sinn wollen wir in diesen Heilig-Rock-Tagen bewusst den Blick auf die Würde des Menschen richten, von der wir sagen, sie sei unantastbar, und die doch tagtäglich vielfältigen Angriffen ausgesetzt ist.
Aber es ist nicht nur die Synode, die uns verpflichtet, unseren Blick auf die Würde des Menschen zu richten. Es sind in diesem Jahr auch Anlässe von außen, die diesen Blick nahelegen:
Liebe Schwestern und Brüder! Am Fest des Hl. Rockes schauen wir nicht nur auf das Gewand. Wir schauen zuerst und vor allem auch den, der es getragen hat, bevor die Soldaten es verlosten. Ist Ihnen übrigens schon einmal aufgefallen, dass die Evangelien nicht darüber berichten, wie die Soldaten Jesus seine Kleider ausgezogen haben? Die Evangelien berichten bloß das Ergebnis und darüber, wie die Soldaten ihre Beute verteilen. Erst die Passionsfrömmigkeit hat daraus die zehnte Station des Kreuzwegs gemacht: Jesus wird seine Kleider beraubt. Hier geht es nicht nur darum, sich die letzten Habseligkeiten eines Delinquenten anzueignen. Das Abnehmen der Kleider ist ein bewusster Akt der Entwürdigung des Verurteilten: Ein Mensch wird zur Schau gestellt in seiner Blöße, in seiner Wehrlosigkeit und Hilflosigkeit.
Indem sich der Sohn Gottes dieser Situation ausliefert, sich solidarisch macht mit all denen, die in ihrer Integrität angetastet oder gar ihrer menschlichen Würde beraubt werden, wird dem Menschen eine neue Würde geschenkt, eine Würde, die bleibt – auch in der Schwachheit; eine Würde, die ihm in aller Erniedrigung nicht genommen werden kann, weil Gott selbst für sie einsteht. Sie ist österliche Würde, die die Wunden und den Schmerz und die Erniedrigung nicht überspielt und wegwischt, sondern umkleidet mit einem Glanz, der von Gott kommt.
Für uns konkretisiert sich diese Würde in der Würde der Taufe. Deshalb vergleicht der Apostel Paulus die Taufe mit dem Anlegen eines Gewandes und sagt: „Ihr habt Christus als Gewand angelegt“ (Gal 3,27). Aus dieser Würde entspringen sowohl der Auftrag als auch der Mut, uns als Christen für die Menschen und unsere Welt einzusetzen, damit dieses „Plus“, dieses „Mehr“ zum Leuchten kommt, das Gott in den Menschen hineingelegt hat und zu dem er ihn auch berufen hat. Die Feier der Heilig-Rock-Tage, ja die ganze österliche Zeit mögen uns dazu helfen.