Liebe Mitbrüder im geistlichen Dienst,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
Manchmal erreicht einen die Osterbotschaft mitten während des Jahres, wenn man gar nicht damit rechnet. So ist es mir im September des vergangenen Jahr passiert während einer Visitation im Saarland. Nach einer Messe wurde mir von Mitgliedern des örtlichen Verwaltungsrates voller Stolz ein moderner Kreuzweg gezeigt, den man in der Nähe der Kirche aufgestellt hatte. Und wie beiläufig sagte einer der Verwaltungsräte zu mir: »Ach, wissen Sie, Herr Bischof, ich bin nicht gläubig im eigentlichen Sinn, aber für mich heißt der wichtigste Satz des Christentums: »Er ist nicht hier.«
Ich war verdutzt: Der wichtigste Satz des Christentums: »Er ist nicht hier«? Das ist kein Satz der im Glaubensbekenntnis vorkommt, das doch die wichtigsten Glaubenssätze enthält. Und überhaupt, eine positive, bejahende Aussage ist es auch nicht. Wir hatten keine Zeit mehr, uns näher darüber zu enthalten. Dennoch glaube ich, habe ich verstanden, was der Mann mir sagen wollte. Der Satz »Er ist nicht hier« gehört in die Erzählungen vom Ostermorgen. Vielleicht ist er hier tatsächlich der entscheidende Satz. Bei Matthäus, Markus und Lukas ist es der Engel, der den Frauen, die zum Grab eilen, um den Leichnam Jesu zu salben, die Auskunft gibt: Der, den ihr sucht, ist nicht hier (vgl. Mk 16,6).
In der ursprünglichen Situation ist es ein Satz, der erschreckt und enttäuscht. Am deutlichsten kommt dies im Johannesevangelium zum Ausdruck, das wir soeben gehört haben. Hier ist es Maria Magdalena, die allein zum Grab geht, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Von einer Engelerscheinung ist bei Johannes keine Rede. Maria Magdalena stößt auf das leere Grab und schlussfolgert: »Man hat den Herrn aus dem Grab weggenommen und wir wissen nicht, wohin man ihn gelegt hat« (Joh 20,2). Welche Erschütterung: Man hat den Freunden nicht nur den lebenden Herrn und Meister genommen, sondern auch noch den toten und damit die Chance, sich angemessen von ihm zu verabschieden und ihnen einen Ort der Erinnerungen zu lassen.
Liebe Schwestern und Brüder! Oft schon ist gefragt und darum gestritten worden, ob denn das Grab Jesu wirklich leer war. Freilich, das leere Grab ist kein Beweis dafür, dass Jesus von den Toten auferweckt worden ist. Es ist lediglich ein Hinweis darauf. Bei der Auferstehung Jesu war niemand dabei. Und selbst, wenn ein Kamerateam auf der Lauer gelegen hätte, die Auferstehung selbst hätte sich nicht auf einem Film festhalten lassen. Denn es ist das ganz persönliche Geschehen zwischen Jesus und Gott, seinem Vater. Insofern ist das leere Grab nicht mehr und nicht weniger als eine Einladung, eine Hilfe zum Glauben.
Ich persönlich bin allerdings der festen Überzeugung, dass das Grab leer war. Denn erstens ist im Matthäusevangelium sogar die Rede davon, dass die führenden Männer Jerusalems die Wachsoldaten bestachen, damit sie das Gerücht verbreiten, die Jünger hätten den Leichnam gestohlen (vgl. Mt 28,11-15). Bei einem belegten Grab wäre die Verbreitung eines solchen Gerüchts völlig sinnlos gewesen. Und zweitens: Kann man sich vorstellen, dass der Leib dessen, der sich in seinem Leben und in seinem Sterben ganz an die Menschen verschenkt hatte, verwesen konnte? Jemand hat einmal gesagt: Als der Tod zu Jesus kam, da fand er nichts mehr, was er ihm noch hätte rauben können.
Doch kehren wir noch einmal zurück zu dem Ruf »Er ist nicht hier«. Was aufs erste Hören bestürzend klingt, entpuppt sich bei näherem Bedenken als Hoffnungs-, ja als Jubelruf: »Er ist nicht hier!« – Gott sei Dank! Wäre es anders, so wäre dies nur die Bestätigung des bis heute nicht auszurottenden Verdachts, dass jeder, der den Weg der Gewaltlosigkeit, der Versöhnung und der Liebe geht, über kurz oder lang zum Scheitern verurteilt ist. Wo der endet, der Jesus nachzufolgen versucht, das kann man sich an fünf Fingern ausrechnen, so sagt der gesunde Menschverstand. Ab einem bestimmten Punkt der Auseinandersetzung Jesu mit seinen Gegnern konnten wohl auch Maria Magdalena und die Zwölf sich ausrechnen, wie das mit Jesus ausgehen würde. Am Ende hatten sie es mit eigenen Augen gesehen, nun wollten sie am Grab die Zeit mit ihm wenigstens mit Würde abschließen.
Doch es kommt anders: Jesus ist nicht mehr da, wo sie ihn vermuten. Die Leerstelle, die er hinterlässt, sprengt ein Loch in die scheinbar so undurchdringlichen Mauern von Welt und Zeit. Die Leerstelle im Grab, sie wird zum Ausgangspunkt einer ganz neuen Geschichte. Das »Er ist nicht hier« ist deshalb auch nicht das letzte Wort des Engels: »Geht und sagt seinen Jüngern, vor allem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat« (Mk 16,7). Im Johannesevangelium ist es der Auferstandene selbst, der zu Maria Magdalena sagt: »Halte mich nicht fest, denn ich bin noch nicht zu meinem Vater hinaufgegangen« (Joh 20,17). Den Auferstandenen festzuhalten hieße, ihn ins Grab hinabzuziehen; hieße, seiner Lebendigkeit nicht zu glauben.
Liebe Schwestern und Brüder! An der Wurzel des Osterfestes steht das Pascha, die Urerfahrung Israels, als Gott durch Ägypten ging, um die Israeliten aus der Hand der Unterdrücker zu befreien. Der Befreier-Gott wird weiter dem Volk vorangehen und derjenige bleiben, der dazu ruft, aufzubrechen, Gewohntes hinter sich zu lassen, das Bekannte zu überschreiten. So hatte er es schon bei Abraham getan. Diese innere Bewegung des Aufbrechens und Überschreitens von Gewohntem wird dem Christentum mit Ostern ganz neu eingeschrieben: »Halte mich nicht fest, denn ich bin noch nicht zu meinem Vater hinaufgegangen.«
Diese Bewegung ist Verheißung. Denn sie führt aus der Unfreiheit in Freiheit, aus der Enge in die Weite, aus dem Tod ins Leben. Diese göttliche Bewegung ist aber auch Herausforderung. Denn wir Menschen wollen Sesshaftigkeit, wir wollen Berechenbarkeit und Sicherheit, wollen festhalten - nicht selten auch aus Bequemlichkeit. Oft genug klammern wir uns deshalb an Totes, leben mehr in der Vergangenheit (»der guten alten Zeit«) statt offen zu sein für die Gegenwart. Auch Maria Magdalena und die Jünger waren darin befangen, als sie zum Grab gingen, um den Leichnam zu salben. Sie ahnten nicht, dass sie damit der Wirklichkeit des Auferstandenen hinterherhinkten. Ostern ist also Verheißung und Auftrag.
»Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?«, so fragt der Engel (vgl. Lk 24,5). Lassen wir uns von ihm fragen! Lassen wir uns herausfordern! Wo sind wir auf alte Bilder, Muster und Gewohnheiten festgelegt, die uns den rechten Blick auf das Leben verstellen? Wo sind wir zu sehr vergangenheitsorientiert? Diese österlichen Fragen zielen in unser persönliches Leben, aber auch in das Leben der Kirche. Nicht wenigen Zeitgenossen kommt ja die Kirche rückwärtsgewandt vor, erstarrt und leblos. Wir wissen, dass die Gründe, die dafür angegeben und die Lösungswege, die dazu vorgeschlagen werden, vielfältig sind. Das kann hier in der Predigt nicht diskutiert werden. Was sich aber von Ostern her sicher sagen lässt: Das entscheidende Erkennungsmerkmal für den richtigen Weg liegt in der Lebendigkeit der Beziehung zu Jesus Christus: Da, wo Menschen sich von ihm angesprochen wissen, wo sie spüren, sein Wort ist Wort in mein Leben, wo sie von ihm gestärkt und herausgefordert werden, da liegen wir richtig. Da riecht es nicht muffig nach dem Moder des Todes, da liegt österliches Leben in der Luft.
Österliche Menschen, liebe Schwestern und Brüder, sind Menschen, die bereit sind, sich auf Unerwartetes einzulassen; bereit, innerlich aufzubrechen, weiterzugehen. Oft geht es dabei nicht einmal um einen riesigen Weg, der zu bewältigen wäre, sondern nur um einen kleinen Schritt wie bei Maria Magdalena. Bei ihr reichte die Änderung der Blickrichtung. Als sie sich umdreht, ist die Suche nach der Leiche schlagartig beendet, weil ihr viel Besseres geschenkt wird: die Begegnung mit dem lebendigen Christus.
»Ach, wissen Sie, Herr Bischof, ich bin nicht gläubig im eigentlichen Sinn, aber für mich heißt der wichtigste Satz des Christentums: »Er ist nicht hier.« Gott sei Dank war bei der Visitation keine Zeit zur theologischen Auseinandersetzung darüber, ob das wirklich der wichtigste Satz des Glaubens ist. Vielleicht hat er sich mir gerade deswegen eingeprägt. Jedenfalls ist mir der Mann aus der saarländischen Gemeinde zum Osterboten geworden, mitten im September. Amen. Halleluja.