Liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
Manchmal kann es einem passieren, dass man dann, wenn ein Gebet gesprochen worden ist und wir schon unser Amen gesagt haben, uns fragen: Was haben wir da eigentlich gebetet? Was bedeutet das? Um was haben wir, habe ich jetzt gebetet? So ist es mir an einer Stelle während des Osterhochamtes hier im Dom gegangen: In den Fürbitten haben wir um die Gabe gebetet, mehr als bisher „österliche Kirche“ zu sein. Österliche Kirche sein, das klingt gut, so habe ich spontan gedacht. Das riecht nach Neubeginn, nach Zurücklassen von altem Moder. Da liegt Hoffnung in der Luft, neuer Schwung … Österliche Kirche, ja die wünsche ich mir, auch für unser Bistum in dieser Zeit. Österliche Kirche, das klingt ähnlich verlockend wie das Leitwort unserer diesjährigen Heilig-Rock-Tage: Herausgerufen – Du schaffst unseren Schritten weiten Raum. Und deshalb meine ich, lohnt es sich, diesem Wort von der österlichen Kirche ein bisschen mehr nachzugehen und uns dazu die Osterzeugnisse der Evangelien zu Hilfe zu nehmen. Denn österliche Kirche, das waren ja zunächst und vor allem die Jüngerinnen und Jünger, die die Ereignisse von Tod und Auferstehung Jesu aus nächster Nähe miterlebt haben.
Bei ihnen ist allerdings von österlichem Schwung zunächst nichts zu bemerken. Im Gegenteil: Sie sind traurig, niedergeschlagen, enttäuscht, fühlen sich betrogen. Doch diese Ehrlichkeit bildet den Anfang. Ohne diese Ehrlichkeit gibt es keine österliche Kirche. Hätten die Frauen und Männer der ersten Stunde ihre Ratlosigkeit und Enttäuschung nicht zugelassen und überspielt, wäre es wahrscheinlich gar nicht zu einer Begegnung mit dem Auferstandenen gekommen.
Aber sie sind ehrlich und offen: Maria Magdalena ist bodenlos enttäuscht, dass der Leichnam Jesu verschwunden ist. Gegenüber den Engeln am Grab macht sie keinen Hehl daraus: „Man hat meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wohin man ihn gelegt hat.“ (Joh 20,13) Die Emmausjünger gestehen dem Fremden: „Wir hatten gehofft, dass Jesus von Nazaret der sei, der Israel erlösen werde.“ (Lk 24,21) Und die Jünger am See sagen dem Unbekannten am Ufer auf seine Frage „Habt ihr etwas gefangen, habt ihr etwas zu essen?“ ganz unumwunden: „Nein.“ (Joh 21,5) Leere Hände, enttäuschte Hoffnungen. Da wird nicht drum herumgeredet, nicht schöngeredet. Da wird Armut bekannt. Aber gerade dadurch wird der Raum frei dafür, dass der Auferstandene sich in seiner Kraft und Lebendigkeit zeigen kann.
Liebe Schwestern und Brüder, die Botschaft für uns ist klar: Österliche Kirche werden wir nur, wenn wir in aller Ehrlichkeit unsere Grenzen, unsere Ohnmacht, ja, auch unsere Enttäuschung darüber eingestehen, dass es mit der Botschaft Jesu und der Kirche nicht so läuft, wie wir es uns erhofft haben. Es darf getrauert und geklagt werden. Es ist kein vorschneller Jubel erforderlich, keine gefakten Erfolgsmeldungen … Im Gegenteil.
Eines aber ist erforderlich. Wir sehen es an den Osterzeugen: Sie trauern. Sie klagen, aber sie bleiben. Sie halten aus. Sie wenden sich nicht sogleich von Jesus ab und neuen Heilsversprechen zu: Maria Magdalena bleibt noch am Grab, geht nicht wieder direkt weg wie die Apostel Petrus und Johannes (Joh 20,11). Die Emmausjünger nehmen sich die Zeit zu einem gemeinsamen Weg, tauschen sich aus und nötigen Jesus, noch länger bei ihnen zu bleiben (Lk 24,13f.29). Die Elf bleiben hinter verschlossenen Türen zusammen. Von uns Auslegern, vom Evangelisten angefangen, wird das ja in der Regel kritisch gedeutet: Die Angst hielt die Jünger hinter verschlossenen Türen. Aber kann man es nicht auch einmal positiv deuten: Die Jünger gingen in Klausur?! Und vor allem: Sie blieben zusammen. Dabei hätte es genug Gründe gegeben, sich eine Auszeit zu nehmen – auch voneinander …
Weil sie bleiben und weil sie zusammenbleiben, erfahren sie den Auferstandenen, geben sie ihm gewissermaßen überhaupt die Chance, sich ihnen zu zeigen. Deshalb gehen ihre Klagen und ihre Enttäuschung auch nicht ins Leere. Sie kommen alle bei Jesus selbst an: Die Klage von Maria Magdalena über den gestohlenen Leichnam landet bei Jesus. Die Trauer der Emmausjünger über die zerschlagenen Hoffnungen, auch sie landet bei Jesus. Die Angst der Jünger in ihrer Klausur verwandelt sich in Freude durch Jesus.
Liebe Schwestern und Brüder, was die Evangelien uns in erzählerischer Form berichten, sind im Letzten wahrscheinlich auch Erfahrungen des Gebetes, d. h. der Zwiesprache der Jünger mit Jesus. Nach seinem Tod haben sie die Beziehung zu ihm nicht gekappt: Sie trauern, sie hadern, sie zweifeln, sie ängstigen sich, aber sie tun es nicht ohnehin, sondern sagen es ihm, auch wenn sie es zunächst gar nicht recht wissen. Das ist Gebet. Und das ist die Brücke zu uns: Österliche Kirche heißt: Nicht von Jesus zu lassen, alle Situationen mit ihm zu teilen und dann erleben zu dürfen, dass sich in der Beziehung mit ihm die Sicht auf die Dinge verändert: Musste nicht das alles geschehen? – Da gingen ihnen die Augen auf! (vgl. Lk 24,26f.31.44f)
Österliche Kirche heißt aber offensichtlich immer auch, einen Anruf und Auftrag des auferstandenen Jesus zu hören: Da ist vor allem der Auftrag zu gehen: Maria Magdalena soll zu den verstörten Jüngern gehen, um ihnen ihre Erfahrung des lebendigen Herrn mitzuteilen. Nach Matthäus ist es der Engel am Grab, der den Frauen aufträgt, zu den Jüngern zu gehen und ihnen zu sagen, sie sollen nach Galiläa gehen, weil sie dort, im Galiläa ihres Alltags, Jesus sehen werden (Mt 28,7). Den Jüngern im Boot auf dem See Gennesaret, die eine erfolglose Nacht hinter sich haben, sagt Jesus: Werft das Netz auf der anderen Seite des Bootes aus! (Joh 21,6), und sie tun es, obwohl es ihrer beruflichen Erfahrung widerspricht. Für uns heißt das: Werdet nicht kleinmütig! Zieht euch nicht enttäuscht zurück! Probiert Neues aus!
Österliche Kirche sein, ist deshalb für mich nicht nur ein Muntermacher-Wort zur Osterzeit, sondern ist ein ernsthaftes Programm. Es bedeutet: (1.) Sich ehrlich den Situationen unseres Lebens zu stellen, (2.) in der Beziehung mit Jesus und seinen Brüdern und Schwestern zu bleiben – trotz allem; dazu gehört in besonderer Weise das Gebet. (3.) Schließlich: Aufmerksam zu sein für die Aufträge, die der Auferstandene für uns bereithält. Sie führen in der Regel aus den vertrauten Verhältnissen heraus in den „weiten“, nicht selten unbekannten Raum!
Liebe Schwestern und Brüder! Der Heilige Rock, den wir in diesen Tagen besonders verehren und der uns den Anlass gibt zusammenzukommen, ist eine Passionsreliquie: Sie führt uns zurück unter das Kreuz, wo die Soldaten um die Habseligkeiten Jesu losen. Passt dann die Verehrung des Gewandes Christi, um das die Soldaten gelost haben, eigentlich in die Osterzeit? So kann man sich fragen.
Ich glaube, dass der Heilige Rock auch eine österliche Botschaft enthält: Denn die Soldaten haben Jesus das genommen, was er als Auferstandener ohnehin nicht mehr braucht. Ebenso wie die Tücher im Grab: Auch sie werden nicht mehr gebraucht, bleiben zurück, berichtet der Evangelist (vgl. Joh 20,7). Die zurückgelassenen Kleider sprechen von der neuen Wirklichkeit des österlichen Lebens: Sie ist aus einem ganz neuen „Stoff“ gewebt, der sich nicht dem alten zusammennähen lässt (Mt 9,16). Die Kleider, die Jesus während seines irdischen Wirkens getragen hat, haben ihre Funktion (zu schützen, zu wärmen, die Würde zu bewahren) verloren. Gott selbst tritt nun anders für Jesus ein. Insofern kann uns der abgelegte, zurückgelassene Heilige Rock auch österliche Botschaft und Ermutigung sein: Dass auch wir uns nicht klammern an eine bestimmte Form, ein bestimmtes „Gewand“ unseres persönlichen, aber auch unseres kirchlichen Lebens, das uns zu großgeworden ist oder aus dem wir herausgewachsen sind … Das abgelegte Gewand Jesu ist uns Ermutigung, Gewohnheiten und Sicherheiten abzulegen, die nicht mehr tragen. Von Ostern her brauchen wir keine Angst zu haben, wir würden am Ende nackt und beschämt dastehen. Ostern verheißt, dass Gott schon für uns sorgen wird, wenn wir ihm nach dem Vorbild Jesu vertrauen. Auch das ist österliche Kirche. Amen.