Wir dokumentieren die Predigt im Wortlaut:
Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt,
liebe Verehrerinnen und Verehrer des hl. Willibrord,
liebe Freunde der Springprozession, liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
Zunächst möchte ich Kardinal Hollerich und dem Willibrordus-Bauverein in unser aller Namen danken für ihre Einladung zu dieser Eröffnungsandacht. Mit diesem Dank verbinde ich meine Freude darüber, dass wir nach einer Zwangspause von zwei Jahren uns nun wieder in einer großen Zahl am Grab des hl. Willibrord versammeln können, um den Heiligen durch Gottesdienst und Gebet und durch die Springprozession zu ehren und uns im Glauben stärken zu lassen.
Danken möchte ich persönlich dafür, dass mich Erzbischof Jean-Claude auch in den vergangenen beiden Jahren nach Echternach eingeladen hat und wir uns – wenn auch unter Einschränkungen – treffen konnten. Das Band der Verbundenheit zwischen den Bistümern Luxemburg und Trier ist in der Corona-Zeit nicht abgerissen, wenn es auch notgedrungen etwas schmäler war. Fest geblieben ist es dennoch.
So will ich gerne heute Abend ein Wort der Predigt an Sie richten.
In Deutschland hat in den vergangenen Tagen ein Interview des Philosophen Peter Sloterdijk die Runde gemacht (Rheinische Post, 3. Juni 2022). Peter Sloterdijk ist Sohn einer Deutschen und eines Niederländers. Mit seinen scharfsinnigen, aber nicht selten auch scharfzüngigen Analysen der Gegenwart ist er einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden.
In dem Interview spricht Sloterdijk vom Bedeutungsverlust der Kirche in unserer Zeit. Zugleich gesteht er, dass die Idee der Kirche eine der wenigen Ideen sei, die auch heute von elementarer Bedeutung bleibe. Denn „radikal verstanden, meint Zugehörigkeit zu einer Kirche das Austreten aus allen familialen, standesmäßigen [tribalen], nationalen Besessenheiten und den Eintritt in eine geistgewirkte Gemeinschaft [pneumatische Kommune], in die Meta-Nation der Getauften.“
Doch gerade das werde von den Christen nicht verwirklicht. Deshalb sei „das Christentum ein gescheitertes Projekt“. Die „nationaldämonischen“ Scheinchristentümer [„Para-Christentümer“] hätten es überall auf der Welt unterwandert. „In zwei Weltkriegen haben europäische Christen aufeinander geschossen. Und wenn man näher hinsieht: Schießen denn nicht zur Stunde wieder orthodoxe Christen auf dem Boden der Ukraine gegenseitig auf sich? Kyrill, der Patriarch von Moskau, segnet Putins Waffen – mehr muss man über den Stand der Dinge nicht wissen“, so das bittere Fazit Sloterdijks.
Mag es uns auch übertrieben erscheinen, deswegen das gesamte Christentum als ein gescheitertes Projekt zu betrachten, so ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass der Philosoph hier eine sehr ernstzunehmende Anfrage an das Christentum stellt.
Natürlich ist die Anfrage in allererster Linie an die ungerechten Aggressoren zu richten, die einen Krieg vom Zaun gebrochen haben, obwohl sie selbst Christen sind. Die Frage geht an einen Patriarchen, der diesen Krieg auch noch religiös verbrämt. Dass Christen in der Geschichte und bis heute aufeinander schießen, dass Christen einander den Tod bringen, entspricht wahrhaftig nicht dem Geist des Evangeliums!
Deshalb bin ich froh, wenn der ukrainisch-katholische Erzbischof von Kiew und andere orthodoxe Bischöfe daran erinnern, „wie wichtig es für das christliche Zeugnis ist, selbst in Zeiten des Krieges eine Gesinnung des Friedens zu bewahren und der Vergiftung der Seelen […] entgegenzutreten. Auch in Situationen der berechtigten Selbstverteidigung dürfe man nicht der Versuchung absoluter Verfeindung erliegen.“ (vgl. Vatikan-Newsletter, dt. Ausgabe, vom 4. Juni 2022) In solchen Worten spürt man den Geist des Evangeliums.
Dass Christen sich weltlicher Gewalt bedienen, um gegeneinander vorzugehen, gehört übrigens neben dem großartigen Zeugnis des hl. Willibrord leider auch zum historischen Gedächtnis unserer Region. Dabei denke ich aber nicht an Echternach oder Luxemburg, sondern – wie ich zugebe muss: an Trier. Ich denke an den Fall des spanischen Bischofs Priszillian, der im Jahr 384 von anderen Bischöfen beim Kaiser in Trier angeklagt wurde, sich der Verbreitung einer Irrlehre schuldig zu machen. Die Untersuchungen und Verhandlungen darüber gingen hin und her und Bischof Priszillian sollte nach dem Willen bestimmter Bischöfe dafür nicht nur mit kirchlichen Strafen belegt, sondern mit dem Tod bestraft werden. Dagegen setzten sich keine geringeren als der hl. Martin von Tours und der hl. Ambrosius ein, die dazu eigens nach Trier reisten. Am Ende aber konnten sie doch nichts ausrichten, und es siegte die Gewalt: Bischof Priszillian und seine Anhänger wurden verurteilt und im Amphitheater in Trier hingerichtet … Das war das erste Mal, dass die Kirche sich in einem Glaubensstreit staatlicher Gewaltmaßnahmen bediente, dass Christen Christen umbringen ließen.
Als Willibrord in unsere Region kam, lagen diese Ereignisse schon gut 300 Jahre zurück. Willibrord traf in seiner missionarischen Arbeit auf unterschiedliche Situationen: Es gab damals einerseits noch „christenfreie“ Gebiete, an anderen Orten war das Christentum bereits mehr als 400 Jahre alt. Parallel dazu gab es heidnische Anschauungen, gerade auf dem Land. Ob auch die Springprozession ursprünglich auf irgendwelche heidnischen Tänze zurückgeht, ehe sie „getauft“ wurden (wie eine Tafel in Waxweiler behauptet) …, wir wissen es nicht. (vgl. A. Heinz: Das Trierer Heiligenbuch. Die Eigenfeiern der Trierischen Kirche, Trier 2020,166)
Willibrord konnte aber auch auf Menschen wie die Äbtissin Irmina oder auf die Trierer Bischöfe Basin und Liutwin zählen, die ihn in seiner missionarischen Arbeit handfest unterstützten. Zugleich war es wahrscheinlich auch so, dass Landstriche, die bereits längst christianisiert waren, im Glauben schwach geworden waren, sei es, dass die ursprüngliche Lebendigkeit wieder verblasst war, sei es, dass nach der Taufe der Glaube oberflächlich geblieben war. Wir dürfen also davon ausgehen, dass Willibrord in seiner missionarischen Arbeit beides leisten musste: Er war sowohl in der Erstverkündigung tätig wie auch in der Vertiefung und Erneuerung des Glaubens.
Dabei wird er wohl immer wieder an die Verse aus dem Römerbrief gedacht haben, die wir eben als Lesung gehört haben. Er wird sie den Menschen seiner Zeit erklärt haben. Es ist die neutestamentliche Lesung, die wir jedes Jahr in der Osternacht hören.
Darin ruft Paulus der Gemeinde in Rom in Erinnerung, welch einschneidendes Ereignis die Taufe darstellt. Der Apostel beschreibt sie als den zentralen Wendepunkt des Lebens: Durch das Untertauchen in der Taufe wird der alte Mensch ertränkt, damit der neue Mensch auferstehen kann. Die Taufe nimmt die Bewegung auf, die Christus erlitten hat: Der durch den Tod am Kreuz untergegangen ist, wurde durch die Kraft Gottes erhöht.
Daraus folgert Paulus: Sind wir nun mit Christus (in der Taufe) gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden. Wir wissen, dass Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über ihn. Denn durch sein Sterben ist er ein für alle Mal gestorben für die Sünde, sein Leben aber lebt er für Gott. So begreift auch ihr euch als Menschen, die für die Sünde tot sind, aber für Gott leben in Christus Jesus. (Röm 6,8-11)
Soweit die Theorie, möchte man angesichts der Realität des Christentums sagen. Sowohl Paulus wie Willibrord waren überzeugt: Die Taufe ist ein Ereignis, das wirkt und das gilt, ein für alle Mal. Denn in ihr sagt sich Gott einem Menschen zu, und diese Zusage gilt. Aber die beiden Missionare wussten auch, dass der Mensch sich diese Zusage Gottes immer wieder aneignen muss. Das menschliche Ja zum Glauben muss immer wieder erneuert werden, damit es sich festigt und vertieft. Das ist ein lebenslanger Prozess, auf dem es nicht nur ein Voranschreiten gibt, sondern auch Umwege und Abwege, eine Verbummeln und ein Zurückbleiben.
Von Romano Guardini, dem großen Philosophen und Theologen, gibt es die schöne Mahnung: „Denken Sie daran, dass auch Ihr Verstand getauft worden ist!“ Damit wollte er sagen, dass die Taufe und damit das Christsein nicht nur eine Sache der Frömmigkeit und des religiösen Gefühls ist, sondern spürbare Auswirkungen hat, haben muss auf unser Denken, Urteilen und Entscheiden.
Liebe Schwestern und Brüder, wie ist das bei uns? Nehmen wir unsere Taufe so ernst? Darf die Tatsache, dass wir Christen sind, uns prägen bis in unser ganz alltägliches Denken und Handeln, unsere Beziehungen, unseren Umgang mit den Mitmenschen und der Welt?
Wenn Christen auf Christen schießen, mag das ein besonders offensichtliches Beispiel dafür sein, dass das Taufwasser noch nicht alle Fasern der Existenz durchdrungen hat. Aber wenn wir ehrlich sind, so müssen wir zugeben, dass es auch in unserem Alltag immer wieder Situationen gibt, in denen „unser alter Mensch“ noch sehr lebendig ist und wir ohne großes Nachdenken unseren rein menschlichen Impulsen, Gefühlen und Einschätzungen folgen. Da gibt es auch bei uns noch Bedarf zu weitergehender Missionierung und Evangelisierung.
Deshalb ist es gut, wenn wir uns am Grab eines Glaubenszeugen wie des hl. Willibrord versammeln, uns von ihm inspirieren und herausfordern lassen und um seine Fürsprache bitten.
Kehren wir zum Schluss noch einmal zu Peter Sloterdijk zurück. In dem zitierten Interview gibt Sloterdijk zu, dass das Christentum durchaus eine Erfolgsgeschichte aufzuweisen hat: Ausgehend vom Motiv der Nächstenliebe habe das Christentum eine Ethik, ein Verständnis des Miteinanders entwickelt, das nicht nur den europäischen Kontinent tief geprägt hat. Allerdings sei der christliche Impuls aus der Kirche ausgewandert in weltliche Institutionen, in die Sozialgesetzgebung der Staaten und in andere säkulare Formen und sei nun dort – sozusagen anonym – sehr erfolgreich.
Liebe Schwestern und Brüder, müssen wir traurig sein oder neidisch, dass wir das „Monopol“ über die Nächstenliebe verloren haben? Ich meine nicht. Im Gegenteil: Was kann es Besseres geben, als dass die Werte des Evangeliums mehr und mehr einwandern in alle gesellschaftlichen Bereiche?!
Wir sollten aber auch nicht zu optimistisch, gar naiv sein. Eine solche Entwicklung ist kein Selbstläufer. Auch das zeigt die aktuelle Weltsituation. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass es nach wie vor so etwas braucht wie den glühenden Kern dessen, was die Welt menschlicher macht. Es wäre schön, und es würde ganz dem Auftrag Jesu entsprechen, wenn dieser glühende Kern die Christenheit bleibt in ihrer immer neuen Besinnung auf die Botschaft des Evangeliums.