Schriftlesung: Röm 2,1-11
Liebe Mitchristen,
Schwestern und Brüder im Glauben!
Unser ökumenischer Gottesdienst am Abend des Buß- und Bettags gibt mir nicht nur zum ersten Mal die Gelegenheit, hier in der Basilika im Rahmen einer Predigt das Wort an Sie zu richten, sondern er gibt mir aufgrund des Predigttextes auch die seltene Gelegenheit, richtiger: die seltene Aufgabe, über den Gedanken des göttlichen Gerichts zu predigen. Acht Mal kommt in den elf Versen, die wir in zwei Abschnitten gehört haben, das Wort »richten« oder »Gericht« vor. Flankiert und verstärkt wird der Gerichtsgedanke durch die Begriffe von Gottes Zorn, von Grimm, Vergeltung, Not ...
»Habe ich bereits jemals über diesen Text gepredigt?«, so habe ich mich vorher gefragt: »Nein.« Ich habe nachgeschaut: In der katholischen Leseordnung für die Sonntage kommt im gesamten dreijährigen Zyklus der Abschnitt Röm 2,1-11 nie vor. Lediglich für einen einzigen Werktag ist er vorgesehen (Mittwoch der 28. Woche im Jahreskreis – I). Erstaunlich. Dieser Entdeckung entspricht freilich die Tatsache, dass in unserer Verkündigung insgesamt Predigten über das Motiv des Gerichts eher selten sind. Lediglich gegen Ende des Kirchenjahres kann man aufgrund der vorgesehenen Sonntagsevangelien dem Thema nicht ganz ausweichen.
Sind wir heutzutage mit dem Thema so sparsam, weil vorhergehende Generationen von Predigern hier alles andere als zimperlich waren und eine entsprechende Höllenangst verbreitet haben? Sicher ist das mit ein Grund. Zum anderen haben nicht wenige den Verdacht, der Hinweis auf das göttliche Gericht am Ende der Zeit verstelle den Blick für die Gegenwart und verstärke die Gefahr falscher Vertröstung. Gerade heute aber, so die Stimmen besorgter Zeitgenossen, sei in der immer enger zusammenwachsenden Welt mehr denn je die Bereitschaft gefragt, für Gerechtigkeit im Hier und Jetzt einzutreten. Deshalb konzentrieren wir uns auf die Gegenwart und halten den Gedanken an das Gericht von uns fern.
Der Lesungstext lässt - ganz im Sinne des Buß- und Bettags - ein solches Ausweichmanöver nicht zu. Wie aber sollen wir den Text verstehen?
Zu einem besseren Verständnis möchte ich einen literarischen Text zu Hilfe nehmen. Er stammt aus dem Buch »Die große Scheidung« des anglikanischen Schriftstellers C. S. Lewis. »Die große Scheidung« - letztlich nur ein anderer Namen für Gericht - stellt eine fiktive Traumdichtung dar. In einer Szene lässt C. S. Lewis darin »eine Gruppe ganz normaler Menschen aus einem Zustand der ›Vorhölle‹ zu den hellen, freundlichen Eingangsgefilden des Himmels kommen. Dort werden sie von bereits vollendeten, im Himmel lebenden Menschen in Empfang genommen, die sie von ihrem Leben her kannten und die sie einstimmen sollen auf den entscheidenden Übergang zum Himmel. Die Gespräche zwischen den Abholenden und den Neuankömmlingen beleuchten sehr realistisch die Abgründe der menschlichen Verstocktheit [...] Ich möchte eines dieser Gespräche verkürzt wiedergeben.
Da kommt ein Mann in dieses Vorfeld des Himmels, der sich auf Erden in seinem Betrieb abgerackert hat, und er wird jetzt zu seiner unangenehmen Überraschung abgeholt von einem seiner früheren Angestellten, der wegen Mordes an einem anderen Mitarbeiter lange im Gefängnis saß. Dass dieser Mann, den er zeitlebens verachtet hat, Vergebung gefunden hat und jetzt hier ist, das geht ihm offenbar nicht in den Kopf.
›Nun sieh mal an‹, sagte der Mann und schlug sich auf die Brust, ›ich bin als ein aufrechter Mann durchs Leben gegangen. Ich behaupte nicht, dass ich ein frommer Mann war oder dass ich keine Fehler hatte – durchaus nicht. Aber ich habe mein Bestes getan all mein Leben lang [...] Ich habe mein Bestes getan für jedermann, so einer war ich. Ich habe nichts haben wollen, was mir nicht von Rechts wegen gehörte. Wenn ich was trinken wollte, habe ich dafür bezahlt, und wenn ich meinen Lohn nahm, habe ich dafür gearbeitet, verstanden? So einer war ich, und meinetwegen kann das jeder hören. …. Und ich muss mein Recht haben, gerade wie du.‹
›O nein, so schlimm steht es nicht‹, antwortet der ehemalige Angestellte. ›Hätte ich bekommen, was mein Recht ist, wäre ich nicht hier. Und auch du wirst nicht dein Recht bekommen, keine Sorge, sondern etwas viel Besseres.‹
›Ja, das sage ich doch gerade. Mein Recht habe ich nicht bekommen. Immer habe ich mein Bestes getan, und nichts Unrechtes habe ich mir zuschulden kommen lassen… Ich will bloß mein Recht haben. Ich habe nicht um irgend jemandes kreuzverdammte Barmherzigkeit gebeten.‹
›Dann tu es. Tu’s sogleich. Bitte um die zum Kreuz verdammte Barmherzigkeit. Alles kann hier durch Bitten erlangt werden, nicht durch Kauf.‹
›Nun schön, das mag ja alles für dich das Wahre sein. Wenn die es für richtig halten, einen dreckigen Mörder einzulassen, bloß weil er im letzten Augenblick ein Jammermaul gezogen hat, das ist ihre Sache. Aber ich habe nicht die Absicht, dir Gesellschaft zu leisten, verstanden? Warum auch? Ich will keine Barmherzigkeit. Ich bin ein anständiger Mann, und hätte ich mein Recht bekommen, dann wäre ich längst hier.‹« (Mit leichten Änderungen zitiert nach M. Kehl: Und was kommt nach dem Ende?, 149f)
Schwestern und Brüder! Ist das, was C. S. Lewis hier erzählerisch beschreibt, nicht ein exaktes Porträt des Menschen, dem Paulus vorhält: »Du bist unentschuldbar – wer du auch bist, Mensch -, wenn du richtest. Denn worin du den andern richtest, darin verurteilst du dich selber, da du, der Richtende dasselbe tust« (Röm 2,1).
Nach Ansicht der Bibelwissenschaftler hat Paulus hier – auch wenn er allgemein von »Menschen« spricht, die Juden seiner Zeit im Blick, die mit Dünkel auf die Heiden herabschauen und ihnen ihre Sünden anlasten, sich selbst aber aufgrund ihrer heilsgeschichtlichen Vorrangstellung in Sicherheit wiegen (vgl. U. Wilckens: EKK VI/I, 121). Nun wird man wohl nicht sagen können, dass die frommen Juden in demselben Sinn Sünder waren wie die öffentlichen Sünder und Heiden. Worin aber gleichen sich dann die Gesetzesfrommen und die Sünder, so dass Paulus sagen kann: »Not und Bedrängnis wird jeden Menschen treffen, der das Böse tut, zuerst den Juden, aber ebenso den Griechen ... Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott« (Röm 2,9.11), was so viel heißt wie: Gott gegenüber kann ich mich nicht auf ein Privileg berufen, das unabhängig von meinem Verhalten ist.
Um der Antwort näher zukommen, müssen wir auf das schauen, was Sünde im Tiefsten ist. Dazu reicht nicht der Blick auf einzelne schuldhafte Handlungen, sondern auf die zugrunde liegende Haltung. Und diese Haltung heißt Selbstverschlossenheit. Darin bestand letztlich auch die Ursünde der Menschen im Paradies: Sie verschlossen sich in sich selbst; wollten nicht wahrhaben, dass sie sich in ihrer Lebensmacht ganz dem Schöpfer verdankten. Sünde ist in der Wurzel immer der Griff nach dem Selbstmachen und Selbsthabenwollen. Sünde ist die Verweigerung, sich einem Anderen zu verdanken.
Alle Initiativen, die im Laufe der Heilsgeschichte von Gott ausgehen, haben letztlich das Ziel, den Menschen aus seiner Selbstverschlossenheit zu befreien. Deshalb erwählt Gott sich ein Volk und führt es aus der Knechtschaft in die Freiheit. Um in dieser Freiheit zu bleiben, die freilich nur in der Bindung an ihn garantiert ist, schließt der Herr den Bund am Sinai und schenkt die Zehn Gebote als »Anweisungen für das Land der Freiheit«, wie Fulbert Steffensky sie genannt hat.
Doch der Hang zur Selbstbehauptung bricht auch in Israel immer wieder durch. Aus ihm entspringen die zwei Pervertierungen des Gesetzes, die die Geschichte Israels, ja der ganzen Menschheit bis heute begleiten: Die eine dieser beiden Fehlformen heißt »Ungerechtigkeit«. Sie ignoriert die Weisungen Gottes, indem sie sie übertritt. Die andere Pervertierung ist die Haltung der »Selbstgerechtigkeit«. In ihr werden zwar die moralischen Lebensweisungen peinlich genau befolgt. Eigentlich aber ist die Selbstgerechtigkeit nur eine andere Spielform der Selbstverschlossenheit und Ichzentriertheit, die sich mit scheinbar frommen Mitteln legitimiert. Saulus-Paulus ist dafür das prominenteste Beispiel der Glaubensgeschichte. Seine Sünde vor der Bekehrung bestand ja gerade in seiner überbordenden Selbstgerechtigkeit, in der er mit Hilfe des jüdischen Gesetzes gelebt hat. Umso notwendiger war es für ihn, dem Gesetz, das heißt seinem Verständnis von Gesetzlichkeit zu »sterben« (Gal 2,19).
In der Erzählung von C. S. Lewis ist der Selbstgerechte der Mann, der im Himmel nicht mehr als sein Recht will, das ihm aufgrund seines anständigen Lebenswandels vermeintlich zusteht. Dieser Mensch braucht Gott letztlich nur, um seinen Rechtsanspruch auf den »verdienten« Himmel durchzusetzen. Damit lässt er Gott aber nicht mehr Gott sein, sondern macht ihn zu einer Funktion seiner selbst. Er, der Mensch, selbst ist der Richter über Gut und Böse, über Leben und Tod. Gerade damit verschließt er sich aber den Himmel und spricht über sich selbst das Gericht.
Oder denken wir nur an das berühmte Beispiel vom Pharisäer und vom Zöllner bei Lukas (Lk 18,9-14), in dem der selbstgerechte Pharisäer sich selbst lobt, indem er betet: »Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort.« Der reuige und zerknirschte Zöllner betet stattdessen: »Gott, sei mir Sünder gnädig.«
Sören Kierkegaard, der bekannte dänische Philosoph und Theologe hat dazu so treffend gesagt: »Das ist das Verwirrende mit uns, dass wir zugleich Pharisäer und Zöllner sind.« Ehrlicherweise müssen wir gestehen, dass wir immer wieder beide Rollen anprobieren. Die Rolle desjenigen, der sich wie der Pharisäer einerseits bemüht, den Glauben ernsthaft zu leben, ihn sich etwas kosten zu lassen, die damit verbundene Verpflichtungen zu übernehmen, zugleich aber in der Versuchung steht, sich selbst damit zu bestätigen, dass er das Unchristliche bei anderen aufdeckt. Ein anderes Mal behagt uns mehr die Rolle des Zöllners: Wir passen uns den geschäftlichen Spielregeln dieser Welt an (samt ihren Unwahrheiten und Halbwahrheiten), nehmen es mit der kantigen Botschaft Jesu nicht so genau und ergreifen die kleinen Vorteile, mit denen wir den anderen voraus sind ... Es ist eben das Verwirrende, das Verflixte mit uns, dass wir zugleich Pharisäer und Zöllner sind!
Wie kommen wir nun aus diesem Teufelskreis heraus? Gar nicht. Aus eigener Kraft schaffen wir es nicht. Wir würden es nie schaffen, wenn nicht Gott selbst uns zu Hilfe käme. Nun liegt aber gerade darin die Frohe Botschaft des christlichen Glaubens, dass sie uns sagt: In Jesus Christus hat Gott die Hand nach uns Menschen ausgestreckt, und er zieht sie nie mehr zurück. Wenn wir seine ausgestreckte Hand ergreifen, das heißt, wenn wir seinem Wort glauben und uns auf dieses Wort einlassen, reißt er uns aus unserer Selbstverschlossenheit heraus.
Paulus hat es am eigenen Leib erlebt. Er ist von seiner sündigen Ichfixierung befreit worden. Die Begegnung mit der Liebe, die Christus ist, sie hat ihn aufgebrochen. Im Galaterbrief hat er es auf den Jubelruf gebracht: »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat« (Gal 2,20).
Die Formulierung im 2. Kapitel des Römerbriefs ist weniger emphatisch, doch sie meint dasselbe. Wir haben es in der Lesung gehört: »Verachtest du etwa den Reichtum von Gottes Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass Gottes Güte dich zur Umkehr treibt?« (Röm 2,4) Die revidierte Lutherübersetzung formuliert: »Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?«
Liebe Schwestern und Brüder, wenn etwas die Herzen der Menschen zum Positiven hin bewegt, dann ist das niemals die Angst, sondern immer nur die Güte. Freilich, der Gedanke an das Gericht erinnert uns an die Verantwortung, die wir als Menschen haben. Doch nur die Wertschätzung, die Zuneigung, ja die Liebe, die uns entgegengebracht wird und die wir zulassen, verändert uns. Nur sie hat die Kraft, unsere Selbstverschlossenheit aufzubrechen. Gott, der unser Schöpfer ist, kennt uns besser als wir uns selbst kennen. Deshalb hat er in Jesus Christus den Weg der Liebe gewählt, hat er uns seine Güte und Menschenfreundlichkeit gezeigt. »Sie erzieht uns dazu, uns von der Gottlosigkeit und den irdischen Begierden loszusagen und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt zu leben«, so Paulus in seinem Brief an Titus (2,12). Wirklich erzieherisch zum Positiven ist in den Augen Gottes nur die Liebe.
Deshalb verstehe ich den Buß- und Bettag auch nicht als einen Tag, an dem man sich vor allem vornimmt, seine moralischen Anstrengungen zu verdoppeln, sondern zuerst und vor allem auf Jesus Christus, Gottes gekreuzigte Liebe, zu schauen, um sich von ihr anziehen und über sich hinaus ziehen zu lassen.
Das ist ein sehr persönlicher Vorgang, aber es ist auch ein kirchlicher, ein gemeinschaftlicher Vorgang, bei dem wir uns gegenseitig brauchen und stützen müssen. Darauf hat übrigens D. Bonhoeffer hingewiesen in seiner Lebensregel für das Seminar in Finkenwalde. Fast klingt es wie ein Kommentar zu Röm 2,1-11, wenn er - geradezu provozierend - schreibt: »Wir brauchen nicht zu richten, wir dürfen die Sünden des Bruders [/der Schwester] erleiden. Das ist Gnade für den Christen; denn welche Sünde geschieht in der Gemeinschaft, bei der [man] sich nicht zu prüfen und anzuklagen hätte auf seine eigene Untreue im Gebet und in der Fürbitte, auf seinen Mangel an [geschwisterlichem] Dienst, an [geschwisterlicher] Zurechtweisung und Tröstung, ja auf die eigene persönliche Sünde, auf die eigene geistliche Zuchtlosigkeit, mit der [man] sich, der Gemeinschaft und den Brüdern und Schwestern Schaden getan hat? ...
Den Dienst der Vergebung tut einer dem Andern täglich. Ohne Worte geschieht er in der Fürbitte füreinander; und jedes Glied der Gemeinschaft, das in diesem Dienst nicht müde wird, darf sich darauf verlassen, dass auch ihm dieser Dienst von den anderen getan wird. Wer selbst trägt, weiß sich getragen, und nur in dieser Kraft kann er selbst tragen« (D. Bonhoeffer: Gemeinsames Leben, Gütersloh, 24. Auflage 1993, 87, mit ganz leichten Veränderungen von mir).
Liebe Mitchristen, man spürt die geistliche Tiefe, der diese Sätze entstammen. Sie tut uns gut in unserer kurzatmigen und so sehr auf Aktionen ausgerichteten Zeit. Was Dietrich Bonhoeffer sagt, gilt für die Glaubensgemeinschaften, in denen wir leben. Es gilt auch für die Gemeinschaft zwischen unseren Kirchen: Wir brauchen den wechselseitigen Dienst der Fürbitte, wir brauchen das Leiden an der Sünde der Trennung und wir brauchen das Miteinander-Tragen. Amen