Liebe Mitbrüder im Amt des Bischofs, des Priesters und Diakons,
sehr geehrte Vertreter der verschiedenen zivilen Einrichtungen und Behörden,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben, besonders liebe junge Mitchristen!
Ich bin meinem Mitbruder Bischof Jean-Pierre sehr dankbar, dass er die Initiative zu diesem Gottesdienst ergriffen hat. In diesen Wochen wird auf vielfältige Weise des Beginns des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren gedacht: Es gibt öffentliche Gedenkveranstaltungen, historische Fachtagungen, Dokumentationen. Umso wertvoller ist es, dass wir uns als gläubige Christen zur Feier des Gottesdienstes zusammenfinden, um auf diese Weise unseren Willen zu Frieden Versöhnung unter den Völkern zum Ausdruck zu bringen und um die Gabe des Friedens und der Versöhnung zu bitten, die Jesus Christus uns in seiner Liebe schenkt.
Ich habe es als Ehre und als eine Verpflichtung zugleich empfunden, heute nach Lüttich zu kommen und auch in der Predigt das Wort an die gottesdienstliche Versammlung zu richten. Nun sind 100 Jahre eine lange Zeit. Für uns Nachgeborene ist der Erste Weltkrieg ein Datum der Vergangenheit, weit weg. Man muss die Geschichtsbücher zur Hand nehmen, um Näheres über den Krieg zu erfahren. Die Augenzeugen, die aus erster Hand berichten konnten, sind inzwischen verstorben. Und doch, noch vor einer Woche hatte ich die Gelegenheit, einen Priester meines Bistums zu besuchen, der zwei Monate vor Beginn des Krieges geboren wurde: In seinem Leben ist gewissermaßen der ganze Spannungsbogen der letzten hundert Jahre mit ihren Licht- und Schattenseiten gegenwärtig.
Wenn man, liebe Schwestern und Brüder, um Frieden und Versöhnung bittet, dann kann man es nur dann sinnvoll und redlich tun, wenn man es nicht bloß abstrakt tut und nicht nur im Blick auf die anderen, sondern mit einem ehrlichen Blick auf sich selbst. Nun bin ich selbst zwar erst ein halbes Jahrhundert nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs geboren, und doch stehe ich hier als ein Bischof aus Deutschland. Diese Tatsache stimmt mich gleich doppelt nachdenklich:
Denn zum einen ist gerade der 3. August der Tag, an dem vor 100 Jahren deutsche Soldaten in klarer Missachtung des Völkerrechts in Belgien einmarschiert sind und es im „Handstreich“ nehmen wollten, um sich damit den Zugang nach Frankreich zu verschaffen. Aber nicht nur das Datum, sondern auch dieser Ort Lüttich ist in dramatischer Weise mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs verknüpft, denn hier ereignete sich der erste große Angriff der deutschen Streitkräfte. Innerhalb weniger Tage gab es nicht nur Tausende toter und verwundeter Soldaten zu beklagen, auch unbeteiligte belgische Zivilisten wurden Opfer des brutalen Vorgehens der deutschen Armee. Mehr als 5.500 verloren dabei ihr Leben.
Leider kann ich auch die Tatsache, Bischof zu sein, nicht zur Entlastung meiner nationalen Hypothek in die Waagschale werfen. Denn auch die Bischöfe in Deutschland haben zunächst im Krieg eine Chance zur moralischen und geistigen Erneuerung gesehen. „Wir waren durch die lange Friedenszeit etwas verwöhnt“, so sagt der Bischof von Speyer wenige Tage nach Kriegsbeginn. Er war der Überzeugung, dass in Zeiten des äußeren Friedens die Streitigkeiten und Konflikte in den Familien und in der Gesellschaft zunehmen. Deshalb erwartete er sich vom Krieg nach außen eine Stärkung nach innen *. Für uns ist es heute unbegreiflich, wie man sich von einem Krieg eine reinigende und aufbauende Wirkung erwarten kann! Wir müssen leider feststellen, dass auch die Bischöfe in ihrem Denken damals in nationaler Enge gefangen waren. Damit gerieten die deutschen Katholiken in eine schwere Zerreißprobe, etwa wenn die französischen Glaubensbrüder und -schwestern ihnen die Frage stellten: „Wie könnt ihr deutschen Katholiken auf Befehl eines evangelischen Kaisers auf uns durch und durch katholische Franzosen schießen?“ Freilich dachten und predigten nicht nur die Bischöfe in Deutschland im Sinne ihres Staates.
Gott sei Dank gab es innerhalb der Kirche aber auch Stimmen, die sich für den Frieden und die Versöhnung unter den Völkern stark machten. Dazu gehörten vor allem die Päpste: Papst Pius X. hat noch wenige Tage vor seinem Tod einen Aufruf zum Frieden verfasst, in dem er schreibt: „Wo fast ganz Europa in den Strudel eines überaus unseligen Krieges hineintreibt, dessen Gefahren, Niederlagen und Endausgang niemand auch nur flüchtig überdenken kann, ohne von Schmerz und Entsetzen gepackt zu werden“, mahnen wir alle Katholiken, „öffentliche Gebete abzuhalten, damit der barmherzige Gott… die unheilvolle Kriegsfackel recht bald auslösche.“ ** Sein Nachfolger, Papst Benedikt XV. hat sich dann unablässig als Mahner für den Frieden eingesetzt. Immer wieder erhob er seine Stimme und drängte die Kriegsparteien zu Verhandlungen. Wir wissen heute, wie richtig der Papst die Situation eingeschätzt hat. Doch seine Aufrufe verhallten leider ohne Wirkung.
Liebe Schwestern und Brüder, wie dankbar dürfen wir sein, heute – 100 Jahre später und nach einem weiteren, noch schrecklicheren Krieg - in einem geeinten Europa zu leben. Wir verneigen uns voller Dankbarkeit vor all denen, die an diesem Europa mitgebaut haben und mitbauen. Dennoch muss es uns bis heute mehr als nachdenklich stimmen, dass der christliche Glaube, der doch unsere europäische Zivilisation seit ihren Anfängen geprägt hat, nicht die Kraft hatte, die Kriege und die menschenverachtenden Ideologien des letzten Jahrhunderts zu verhindern. Wie konnte es zu einem solchen Rückfall in die zivilisatorische „Steinzeit“ kommen?!
Die Frage ist umso dringlicher, als wir spüren, dass die Gemeinschaft der europäischen Völker nicht eine Sache ist, die – einmal beschlossen - einfach so besteht. Diese Gemeinschaft muss gepflegt werden. Die internationale Finanzkrise und die Schuldenkrise der europäischen Staaten haben uns gezeigt, dass Nationalismen neu aufflammen können, dass alte Bilder und Vorurteile noch nicht endgültig überwunden sind. Die Europaskeptiker haben im Moment Aufwind. Und die blutigen Auseinandersetzungen um die Ukraine, die schon Hunderte von Opfern gefordert haben, wirken wie ein Rückfall in ein altes Machtdenken aus der Zeit des Ersten Weltkriegs.
Was gibt uns für diese Situation das Wort Gottes an diesem Sonntag mit? Aufs Erste scheint es nichts mit dem Anlass zu tun zu haben, der uns heute zusammenführt. Aber wenn wir genauer hinhören, dann entdecken wir darin die Botschaft für uns:
Wir haben in der ersten Lesung den Propheten Jesaja gehört, der wie ein Händler auf einem orientalischen Markt aufzutreten scheint und seinen Zuhörern zuruft: „Kauft Getreide, und esst, kommt und kauft ohne Geld, kauft Wein und Milch ohne Bezahlung!“ Wie soll man das verstehen: Kaufen, ohne zu bezahlen? Ein Widerspruch in sich. Doch der Prophet löst den Widerspruch selbst auf und erklärt, was er sagen will: „Warum bezahlt ihr mit Geld, was euch nicht nährt, und mit dem Lohn eurer Mühen, was euch nicht satt macht?“ (Jes 55,1f) Jesaja erinnert uns daran, dass wir die größten und wichtigsten Dinge unseres Lebens nicht bezahlen können. Gerade die elementarsten Dinge bekommen wir geschenkt: Das fängt an bei der Gabe des Lebens selbst, die wir uns nicht verdienen können. Das gilt für das Licht und die Luft, die wir atmen. Aber es gilt eben auch für die Gaben der Gemeinschaft, des Friedens, der Freundschaft. Ich kann keinen anderen zwingen, mir seine Zuneigung, seine Freundschaft zu gewähren. Ich kann sie mir auch nicht erkaufen. Sie sind Geschenk. Was ich aber tun kann, ja immer wieder auch tun muss, ist: den menschlichen Boden dafür zu bereiten, dass Gemeinschaft und Freundschaft möglich werden.
Vielleicht ist es so auch zu erklären, dass der Prophet das Volk nicht einfach dazu einlädt, sich Getreide, Wein und Milch schenken zu lassen. Vielmehr wählt er die paradoxe Formulierung: Kommt und kauft – ohne Geld, kauft – ohne Bezahlung! Die Menschen sollen kommen und kaufen. Das heißt: Sie sollen sich aufmachen und bemühen. Auch wenn die Gaben, um die es geht, nicht einfach im Geschäft zu kaufen sind, sie fallen ihnen auch nicht einfach in den Schoß. Nur wenn ich mich um die Gaben mühe, weiß ich sie in ihrem Wert erst wirklich zu schätzen. Gilt das nicht auch für die Gaben der Versöhnung, des Friedens und der Gemeinschaft unter den Nationen? Ich habe kein Anrecht auf Frieden und Versöhnung. Ich kann beides nicht erzwingen. Ich kann es nicht kaufen wie etwas, das ich einmal bezahlt habe und dann besitze. Aber Frieden und Freundschaft fallen mir in der Regel auch nicht einfach so zu. Ich muss mich immer wieder um sie bemühen, muss die ganze Kraft meines Herzens einsetzen.
Bei diesen Bemühungen bleiben wir nicht bewahrt vor Enttäuschungen und Rückschlägen, verursacht nicht nur durch die anderen, sondern auch durch uns selbst: Etwa dann, wenn wir spüren, dass es uns schwerfällt, den anderen in seinem Anderssein anzunehmen; wenn wir uns fragen, ob all unser Engagement überhaupt Sinn macht und Antwort findet; wenn wir den Eindruck haben, uns fehlt die Kraft zu Dialog und Versöhnung.
In diesen Momenten sind wir den Jüngern im heutigen Evangelium nahe: Sie haben den Eindruck, dass sie den Menschen am Ende des Tages nicht das geben können, was sie brauchen und wonach sie hungern. Deshalb wollen sie sie wegschicken. Doch Jesus sagt: „Sie brauchen nicht wegzugehen. Gebt ihr ihnen zu essen!“ (Mt 14,16) Gebt ihr ihnen das Brot, das man mit Geld nicht kaufen kann, das Brot, das den Hunger des Herzens stillt: den Hunger nach Sinn, nach Gemeinschaft, nach Frieden! Auch wenn ihr meint, ihr selbst hättet davon zu wenig. Das Wenige, das ihr habt, setzt ein! Setzt es ein in der Kraft des Glaubens. Setzt es ein in der Hoffnung auf mich! Und wenn es auch noch so wenig ist, aber setzt es ein! Mag euer Wille zur Gemeinschaft mit allen Menschen auch schwach sein, eure Hoffnung auf Frieden gering, eure Liebe zum Nächsten klein, zeigt sie und teilt sie – gegen alle Widerstände! Dann werdet ihr erleben, dass euer Vorrat nicht kleiner wird, sondern größer. Das Wenige wird wachsen, es wird mehr.
Liebe Schwestern und Brüder, wenn wir der Weisung Jesu folgen, wenn wir nicht nur das wichtig nehmen, was man gegen Geld kaufen und verkaufen kann, sondern uns um das bemühen, was den Hunger des menschlichen Herzens stillt, dann werden Frieden und Versöhnung unter uns wachsen. Am Ende wird es reichen für alle, und es wird noch einen Überschuss geben… - „zwölf Körbe voll“.