Liebe Mitchristen!
Vor drei Jahren wurde draußen auf dem Bischof Stein-Platz das Mahnmal zur Erinnerung an die Nazi-Verbrechen gegenüber den Sinti und Roma errichtet. Seitdem stehen dort die sechs Stelen unübersehbar, aber auch nicht aufdringlich. Sie gehören inzwischen fest zum Bild des Platzes. Das ist gut so, aber es birgt auch die Gefahr, dass gerade wir Trierer das Mahnmal sehen und zugleich übersehen. Umso wichtiger ist es, dass es neben der stummen Mahnung das lebendige Gedenken gibt wie am heutigen Tag.
Freilich, wir reihen uns heute mit dem Gedenken an die ersten systematischen Deportationen von Sinti und Roma vor 75 Jahren ein in eine ganze Serie von Gedenktagen, die wir in den letzten Wochen begangen haben: Die meisten standen im Zusammenhang mit dem Ende der Nazi-Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren. Diese Gedenktage enthalten immer eine schmerzliche Dimension, selbst wenn man dankbar an das Ende und die Befreiung von einer Schreckensherrschaft denkt. In den Überlebenden wie in den Nachfahren der Opfer ist da der Schmerz über das Erlittene. Bei denen, deren Familien nicht zu den Opfern gehörten, gibt es den Schmerz der Scham darüber, dass man sich nicht mutiger dem Unrecht entgegengestellt hat. Weil das Gedenken schmerzlich ist, gibt es immer wieder Menschen, die der Meinung sind, dass es doch irgendwann einmal genug sein muss mit solchem Gedenken. Die Antwort darauf kann aber nur lauten: Nein. Denn der Schmerz hält die Erinnerung wach. Und: Der Schmerz ist es auch, der vor dem Rückfall in alte Muster bewahren kann.
Leider ist auch für das Bistum Trier die Erinnerung an die Zeit vor 75 Jahren nicht ohne Schmerz. Denn, soweit ich weiß, gibt es vom damaligen Bischof kein mutiges Wort des Eintretens für die Sinti und Roma zu berichten. Er reiht sich damit ein in die große Mehrzahl der deutschen Bischöfe, die um die systematischen Maßnahmen gegen die Sinti und Roma gewusst haben müssen (es gingen nämlich Bittschriften ein), aber nur in einem allgemein gehaltenen Hirtenbrief protestierten.
Ein Lichtblick hingegen ist das Zeugnis von zwei Trierer Priestern, die sich um das Geschick der Sinti und Roma gekümmert haben: Bekannt geworden ist vor allem der Einsatz von Pfarrer Arnold Fortuin, der sich schon als Religionslehrer in Bad Kreuznach um Sinti und Roma gekümmert hat und wegen seiner NS-kritischen Haltung von Bad Kreuznach nach Beuren in den Hochwald (1937) versetzt wurde. In der Nähe von Beuren lag bekanntlich das Sonderlager Hinzert, in dem ab 1940 auch Sinti und Roma interniert wurden. Fortuin verhalf zahlreichen Sinti und Roma zur Flucht nach Frankreich und rettete sie damit vor der Verfolgung. 1965 wurde Pfarrer Fortuin zum ersten katholischen Nationalseelsorger der Sinti und Roma in Deutschland ernannt und hat dieses Amt bis zu seinem Tod im Jahr 1970 ausgeübt.
Weniger bekannt ist, dass sich die von Pfarrer Johannes Maria Haw aus Schweich gegründeten Johannesschwestern und Johannesmissionare von ihrer Niederlassung in Berlin aus intensiv in der Betreuung von Sinti und Roma, die im sogenannten „Zigeuner-Lager Marzahn“ untergebracht waren, engagiert haben (vgl. A. Leugers: Die Verfolgung der Sinti und Roma im Dritten Reich in Publikationen katholischer Kirchenhistoriker, in: Beiträge zur Antiziganismusforschung 5, 2008, 33).
Liebe Schwestern und Brüder! Schauen wir schließlich noch auf das Evangelium von diesem Sonntag vor Pfingsten: Es trägt den Charakter des Abschieds. Jesus bereitet seine Jünger darauf vor, dass er zum himmlischen Vater zurückkehrt. Und er kündigt ihnen auch ohne Umschweife an, was ihnen bevorstehen wird: Sie müssen sich gefasst machen auf den Hass der Welt, denn, so sagt Jesus: „Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin.“
Zugleich bittet Jesus aber den Vater, dass er die Seinen nicht aus der Welt herausnimmt, dass er sie aber vor dem Bösen bewahrt (Joh 17,15f). In die Überlieferung dieser Jesusworte ist sicher schon die Erfahrung der frühen Christen mit eingeflossen, die sich in den Gesellschaften rund um das Mittelmeer als Minderheit erlebten. Sie sahen sich als Fremde mitten unter ihren Zeitgenossen und waren immer wieder Spott, Unverständnis und Verfolgungen ausgesetzt. Umso schmerzlicher ist es festzustellen, wie oft Christen, wenn sie zur Mehrheitsreligion geworden waren, diese Aussagen Jesu vergessen haben. Dabei gehört die Erfahrung der Verfolgung doch zur Grunderfahrung der Kirche (leider bis auf den heutigen Tag). Umso mehr müsste man gerade bei uns Christen Respekt und Verständnis für Menschen erwarten können, die eine Minderheit bilden, die möglicherweise auch fremd wirkt.
Das biblische Wort dieses Sonntags macht uns auf seine Weise darauf aufmerksam, dass Erinnerungsarbeit nie nur den Blick zurück richtet, sondern immer auch Hilfe und Anstoß für die Gegenwart ist. Wir brauchen nicht lange nach Beispielen für eine Aktualisierung zu suchen: Denken wir nur an die vielen Menschen, die derzeit bei uns Zuflucht suchen, weil sie einem gewaltsamen Tod entfliehen möchten, weil sie Verfolgung ausgesetzt sind oder weil sie schlicht in ihren Heimatländern keine Lebensperspektive sehen … Das Evangelium mahnt uns aus der eigenen christlichen Erfahrung heraus, respektvoll mit dem Fremden und den Fremden umzugehen. Hier gilt auch das Wort von Bundespräsident Gauck, der vor kurzem beim Gedenken an den Armeniergenozid vor 100 Jahren sinngemäß gesagt hat: „Wir Heutigen tragen nicht die Schuld für das, was damals geschehen ist, aber wir haben eine Verantwortung.“ Das gilt auch für das Unrecht, das vor 75 Jahren begann, sich über fünf Jahre fortsetzte, einer halben Million Sinti und Roma das Leben kostete und den Überlebenden Wunden zugefügt hat, die bis heute schmerzen. Wir tragen nicht die Schuld daran, aber wir haben Verantwortung für heute und morgen.
Liebe Schwestern und Brüder, unser Gedenken ist eingebettet in die große Gedächtnisfeier des Todes und der Auferstehung Jesu Christi. Das ist ja das Wesen der eucharistischen Versammlung am Sonntag: Wir gedenken des Gottes, der die Liebe ist – wie wir es eben in der Lesung gehört haben (1 Joh 4,16). Aus Liebe zu uns ist er Mensch geworden und hat als Unschuldiger einen gewaltsamen Tod auf sich genommen. Gott, der Vater, hat seinen Sohn nicht vergessen, auch wenn es am Kreuz ganz danach aussah. Nicht vergessen zu sein von Gott, das ist eine andere Umschreibung für die Auferstehung: Denn Vergessen sein, das ist der Tod. Gott aber hat seinen Sohn nicht vergessen. Jesus ist nicht aus dem Gedächtnis des Vaters herausgefallen. Das hat ihn aus dem Tod errettet.
Diese Zusage macht er auch uns: Mag menschliches Gedenken und Gedächtnis wenig verlässlich und löchrig sein, weil wir Menschen gerne vergessen und verdrängen, bei Gott ist es nicht so. Schon durch den Mund des Propheten Jesaja ließ er sein Volk wissen: „Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht“ (Jes 49,15). An Jesus hat Gott diese Zusage wahr gemacht. Das ist Hoffnung für uns und für alle. Amen.