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Gottes Blick kommt auf uns zu

Christliche Grundausstattung: eine visionäre Kraft

Predigt in der Pontifikalvesper am Allerheiligentag 2012 in der Pfarr- und Wallfahrtskirche St. Hildegard, Eibingen

(Schriftlesungen: 2 Kor 6,16b; 7,1)


Lieber Bischof Franz-Peter,
liebe Mitbrüder im geistlichen Amt,
verehrte, liebe Mutter Clementia,
liebe Schwestern und Brüder aus den verschiedenen benediktinischen Konventen und aus den anderen Ordensgemeinschaften,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben!

Es gibt wohl keinen zweiten Tag im Kirchenjahr, an dem wir so bewusst wie am Allerheiligentag über die Grenzen von Zeit und Geschichte hinüberschauen in die neue Welt Gottes. »Heute schauen wir deine heilige Stadt, unsere Heimat, das himmlische Jerusalem«, so haben wir heute morgen in der Feier der Heiligen Messe gesungen. Am Allerheiligenfest werden wir hineingestellt in die große Vision, in die die gesamte Heilige Schrift mündet. Wir alle dürfen, ja sollen uns die Perspektive der Offenbarung des Johannes zu eigen machen: den Blick auf den neuen Himmel und die neue Erde, die zusammenfinden im vollendeten Jerusalem. An diesem Tag sind alle Glaubenden aufgefordert, der visionären Kraft des Glaubens in sich Raum zu geben. Oder sagen wir es anders: Am Allerheiligentag dürfen wir in uns die Sehnsucht danach stärken lassen, dass einmal die »Wunden der alten Schöpfung« vollständig geheilt werden, dass Versöhnung im umfassenden Sinn möglich wird, dass Jesu Verheißung vom Reich Gottes als einem Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens, sich ganz erfüllt. In diesem Sinn erinnert uns das Allerheiligenfest daran, dass jedes christliche Leben ohne den Mut und das Bekenntnis zu dieser Vision ein Torso bliebe.

Visionäre Kraft gehört zur Grundausstattung der Christen

Damit lässt uns das Fest zugleich wissen, dass die visionäre Kraft eines Sehers Johannes oder einer heiligen Hildegard Gabe an die Kirche als ganze sind. Eben dies will die Erhebung Hildegards zur Lehrerin der universalen Kirche durch P. Benedikt XVI. unterstreichen: Der Seherin vom Rhein ist in einer ganz herausragenden und originellen Weise das geschenkt und aufgegeben worden, was eigentlich – wenngleich zumeist unspektakulär – zur »Grundausstattung« eines jeden Christen gehört: Ich meine die Gabe und den Auftrag, die darin bestehen, nicht hängen zu bleiben in den schönen und schweren Dingen des Alltags, sich nicht einsperren zu lassen unter der Käseglocke des eigenen, begrenzten Horizonts, nicht völlig aufzugehen in den großen und kleinen Anforderungen des Hier und Heute, sondern hinauszuschauen über den Tellerrand der eigenen Existenz und einen Blick zu gewinnen für das Ganze der Welt und der Geschichte.

Einen solchen Blick für das Ganze gewinne ich, wenn ich den Ursprung und das Ziel dieser Welt ins Auge fasse. Hildegard hat dies getan. Deshalb war sie mit einem einzigartigen Blick für das Ganze begabt. Er war nicht das Produkt überhitzter religiöser Phantasie, sondern fest gegründet im biblischen Verständnis der Schöpfung und der Heilsgeschichte.

Die Vision: Den schauen, der uns anschaut

Wenn es aber so ist, liebe Schwestern und Brüder, dass durch die Geschichte der Kirche hindurch immer wieder bestimmten Menschen auf exemplarische Weise Gaben zuteil werden, die letztlich allen gelten; wenn es also – umgekehrt formuliert – so ist, dass keine christliche Existenz ohne eine »Grundausstattung« an visionärer Kraft auskommt, dann müssen wir noch einmal fragen, woher im Leben des Christen eine solche Kraft kommt? Als Antwort kommt mir eine Formulierung des heiligen Kirchenlehrers Augustinus in den Sinn: In einer seiner Predigten zum Matthäusevangelium erinnert er seine Zuhörer daran, dass das Ziel des Lebens darin besteht, Gott zu sehen. Die letzte, alles umfassende Vision des Christen besteht in der Visio Dei, der Schau Gottes. Doch bei dieser Schau ist es nicht so, als ob Gott ein Objekt wäre, das wir anschauen. Nein, der, den wir anschauen, ist Subjekt, mehr noch: Er ist der, der längst uns angeschaut hat, bevor wir ihn anschauen. Und: Er ist der, der seinen Blick nicht von uns abwendet. Visio Dei heißt nach Augustinus: Videntem videre: Den zu schauen, der uns anschaut! (Sermo 69, II 3).

Licht und Stimme, die auf uns zukommen

Hier liegt der Ursprung aller christlichen Vision und Schau, mag der einzelne nun mit besonderen Gaben ausgestattet sein oder nicht. Christliche Einsicht in das Geheimnis der Welt, ihr Woher und ihr Wohin ist nicht irgendeine abstrakte Weltentheorie, sondern eine Einsicht des Herzens, die aus der lebendigen Beziehung zu Gott erwächst. Vor all unserem Tun ist nämlich er es, der uns ansieht und anspricht. So hat es Hildegard in ihren Visionen erfahren. Das Licht, das sie sieht, ist kein ferner Glanz, nach dem sie Ausschau halten müsste, im Gegenteil: Das Licht kommt auf sie zu, es durchströmt ihr Gehirn und ihre Brust und entflammt sie, so beschreibt sie selbst es in den einleitenden Sätzen von Scivias. Doch damit nicht genug: Aus diesem Licht spricht eine Stimme sie an (vgl. DBK-Arbeitshilfe Nr. 258, 46f): Sich persönlich angesehen und angesprochen zu wissen, ist die christliche Urerfahrung schlechthin. An dieser Erfahrung nicht achtlos vorbeizugehen, sie nicht nur als ein flüchtiges Augenblickserlebnis abzutun, sondern sie ganz ernst- und anzunehmen ist das Charakteristikum der Heiligen.

Der große Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar hat einmal eine erstaunliche Definition von Heiligkeit gegeben: »Heiligkeit besteht«, so sagt er, »im Ertragen des Blickes Gottes.« Das mag uns zunächst zunächst befremden. Ist das nicht eine allzu passive Beschreibung von Heiligkeit? Doch »jeder weiß, wieviel Anstrengung es erfordert, wenn es in einer wesentlichen Begegnung geschieht. Meist streifen sich unsere Blicke nur indirekt, oder wenden sich gleich wieder ab, oder sie geben sich nicht personal«. So fliehen wir auch vor Gott in eine »zumeist fromme Distanz, oder in äußere Werke. Und doch käme es darauf an, sein nacktes Herz dem Feuer dieses alldurchbohrenden Blickes auszusetzen. Es müsste selber Feuer fangen, wenn es die Strahlen, die ihm wie durch ein Brennglas zukommen, nicht fortwährend künstlich zerstreute. Solches Ertragen wäre das Gegenteil eines stoischen Stirnebietens: [Es wäre ein] ... Sich-besiegt-Erklären, ... Sich-Überlassen, Sich-in-ihn-Werfen. Es wäre kindliches Lieben, denn für Kinder ist der Blick des Vaters nicht peinlich, sie schauen mit groß-offenen Augen in die seinen.« (Das Weizenkorn, 3. Aufl. Trier 1989, 12f).

Von Gottes Blick getroffen - beauftragt - verjüngt und erleichtert

Ist das nicht eine genaue Beschreibung dessen, was Hildegard in ihren Visionen erfahren hat? Die Stimme des Himmels redet sie an als »gebrechlichen Menschen«, als »Asche von Asche, Fäulnis von Fäulnis« , d. h. sie verschweigt nicht die Schwachheit, die Vergänglichkeit, die Sündigkeit des Geschöpfs. Und doch würdigt Gott dieses Geschöpf in einzigartiger Weise durch die persönliche Anrede und den prophetischen Auftrag, den er ihm überträgt. So empfindet sich Hildegard im Geist immer wieder »bis zur Höhe des Firmaments« emporgehoben und wundersam verjüngt: Traurigkeit und Schmerz seien in diesen Momenten von ihr genommen und sie verhalte sich »wie ein einfaches Mädchen ... und nicht wie eine ältere Frau« (DBK-Arbeitshilfe, 48f). Was für ein schönes Zeugnis für die Heiterkeit und Leichtigkeit der Kinder Gottes unter den Augen des himmlischen Vaters!

Gottes Blick ertragen und sich getragen wissen

Das täuscht nicht darüber hinweg, dass Hildegard sehr wohl um den großen Ernst der christlichen Berufung, ja der Verantwortung des Menschen überhaupt gewusst hat: Nach Hildegard hat jeder Mensch zwei Berufungen in sich: »das Verlangen nach Frucht und die Begierde nach Empörung ... Durch das Verlangen nach Frucht wird er zum Leben berufen und durch die Begierde nach Empörung zum Tod« (DBK-Arbeitshilfe, 73). Nicht umsonst war deshalb die heilige Äbtissin vom Rhein eine oft so scharfsichtige Kritikerin und unbequeme Mahnerin ihrer Zeitgenossen, besonders des Klerus. Zu ihren Mahnungen gehörte wie ein Refrain das, was wir eben in der Kurzlesung mit den Worten des Apostels Paulus gehört haben: »Reinigen wir uns ... von aller Unreinheit des Leibes und des Geistes und streben wir in Gottesfurcht nach vollkommener Heiligung!« Und doch gilt das, was wir von Augustinus ausgehend gemeinsam bedacht haben: Alles menschliche Streben nach Heiligung greift zu kurz, wenn es nicht unter dem beständigen Blick der Heiligkeit und der Liebe Gottes bleibt, wenn es nicht diesen Blick erträgt und sich zugleich von ihm getragen weiß.

Wo dies aber geschieht, da werden wir mehr und mehr das, was wir durch die Taufe schon sind: »Tempel des lebendigen Gottes« (2 Kor 6,16b). Wo Menschen sich entflammen lassen von der Liebe Gottes, da wachsen der »Turm der Kirche«, den Hildegard in ihren Visionen gesehen hat (Scivias, Teil III), und die vollendete Stadt Gottes, das himmlische Jerusalem, unaufhaltsam aufeinander zu. Amen.

domradio.de hat ein umfangreiches Dossier über Hildegard von Bingen

Weiteres:

Gottes Blick kommt auf uns zu

in der Predigt