Liebe Schwestern und Brüder!
Mit schöner Regelmäßigkeit werden vor den Hochfesten Umfragen zur Religiosität der Deutschen gestartet. Auch diesmal war es wieder so. Die konkreten Zahlen schwanken, aber der Großtrend ist doch unverkennbar: Die Bindung der Deutschen gerade an die beiden großen christlichen Kirchen schwindet kontinuierlich. Dagegen zeigt sich das Weihnachtsfest relativ resistent: Nach einer Umfrage des Instituts Allensbach gaben sogar 40 Prozent der Befragten an, einen Weihnachtsgottesdienst besuchen zu wollen. Noch beliebter sind die Weihnachtsbräuche: Mehr als 70 Prozent stellen einen Weihnachtsbaum auf, machen sich gegenseitig Geschenke und finden sich zu einem festlichen Essen zusammen. An Weihnachten kommt irgendwie niemand vorbei. Zu sehr sind bei uns Glaube, Kultur und Brauchtum in diesen Tagen miteinander verwoben.
Woran liegt es, dass Weihnachten irgendwie über alle Grenzen der Milieus, der Bildung, der Ökonomie, ja sogar der Religion hinweg begangen wird? Ist das bloße Sentimentalität oder Nostalgie? Ist es das Ergebnis geschickter Marketingstrategien von Handel und Wirtschaft? Oder hat es doch mit der Botschaft selbst zu tun? Schauen wir noch einmal auf den Kern der Botschaft. Der lautet: Gott wird Mensch. Ein für die Religionen völlig ungewöhnlicher, ja einzigartiger Vorgang! Dass Gott allmächtig und über die Erde erhaben ist, das ist in der Welt der Religionen nichts Außergewöhnliches. Das gehört zum Verständnis Gottes dazu, wenn Gott wirklich Gott sein soll. Und auch dass ein Gott sich immer wieder einmal in unterschiedlichen Formen in der Welt zu sehen gibt, ist eine Vorstellung, die den Religionen durchaus nicht fremd ist. Aber dass Gott wirklich Mensch wird, als ein Mensch geboren wird, das ist nun wirklich alles andere als selbstverständlich.
Diese Vorstellung ist alles andere als selbstverständlich, und sie ist doch zugleich auch irgendwie alltäglich: Denn die Geburt eines Kindes ist ein Vorgang, der jeden Tag mehrere hunderttausend Mal vorkommt. Zugleich ist er das Geheimnisvollste und Wunderbarste, das wir Menschen kennen. So kommt auch Jesus und in ihm Gott zur Welt: Äußerlich völlig unspektakulär, reiht sich das Kind von Bethlehem ein unter die unzähligen Geburten, die auf dieser Welt Tag für Tag stattfinden, ohne dass die Welt groß davon Notiz nimmt. Auch dem Kind in der Krippe sieht man nicht an, dass ausgerechnet es das verheißene „Königskind“ ist, von dem der Prophet Jesaja spricht (Jes 9,5).
Zum Geheimnis des Weihnachtsfestes, liebe Schwestern und Brüder, gehört diese Verbindung des ganz und gar Außergewöhnlichen mit dem Alltäglichen. Wenn Menschen an das Kommen Gottes denken, dann erwarten sie das ganz und gar Außergewöhnliche – zu Recht. Denn Gott ist der ganz Andere. Aber indem Gott zur Welt kommt als Sohn einer Frau, weist er uns auch darauf hin, dass sein Geheimnis, ja er selbst mitten in dieser Welt anzutreffen ist. Sein Geheimnis liegt seit der ersten Weihnachtsnacht nicht in unendlicher Ferne, unerreichbar für die Normalsterblichen. Nein, sein Geheimnis liegt sozusagen direkt vor unseren Augen, wenn wir denn Augen dafür haben.
Mit Weihnachten will Gott uns die Augen dafür öffnen. Mit Weihnachten sagt uns Gott: Mein Geheimnis ist nichts anderes als das Geheimnis des Lebens. Wenn du mich also finden willst, dann schau auf das Leben! Vor allen Dingen schau auf den Ursprung des Lebens! Wo liegt er? Er liegt in der Liebe. Wir Menschen kommen zur Welt, weil andere, unsere Eltern, das Wagnis der Liebe eingegangen sind. Dieses Wagnis besteht darin, nicht bei sich selbst zu bleiben, in sich verschlossen, sondern sich über sich selbst hinaus zu wagen, das Wagnis der Gemeinschaft und der Liebe einzugehen. Gemeinschaft und Liebe sind aber auch das innerste Wesen Gottes.
Liebe Schwestern und Brüder, ahnen Sie, was das bedeutet? Wenn das stimmt, dann ist der Kern der christlichen Botschaft keine abgehobene Lehre, die nur kirchlichen Insidern und Experten zugänglich wäre. Nein, dann steht die christliche Botschaft tatsächlich allen Menschen guten Willens offen. Denn das Geheimnis Gottes ist das Geheimnis des Lebens und der Liebe. Wenigstens eine Ahnung davon gibt es doch in einer jeden menschlichen Existenz. Ich bin überzeugt, dass darin letztlich auch die Anziehungskraft des Weihnachtsfestes besteht – trotz aller Übermalungen, allen Kitschs, aller Ökonomisierung und auch für die Menschen, die sich der christlichen Botschaft und der Kirche fern fühlen: Die Botschaft von Weihnachten ist jedem Menschen intuitiv zugänglich.
Von hierher, d. h. von der Liebe her lassen sich die größten Geheimnisse des Glaubens entschlüsseln. Damit meine ich gerade auch die Aussagen des christlichen Glaubens, die für viele Menschen ein Buch mit sieben Siegeln sind: Denken wir nur an die Dreifaltigkeit, die Eucharistie und die Auferstehung von den Toten. Für viele, selbst für Christen, ist das schwer zu verstehen.
Dabei aber sagt das Bekenntnis zu Gott als dem Dreifaltigen nichts anderes als dass Gott schon in sich Gemeinschaft ist. Gott ist kein einsamer Wolf, der sich irgendwann zu den Menschen aufmacht, um Kontakt zu finden. Nein, Gott ist in sich selbst Beziehung, Liebe, Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn im gemeinsamen Geist. Und was ist die Eucharistie anderes, als die Feier der liebenden Hingabe Jesu an uns Menschen, verdichtet in der schlichten Geste des Brotbrechens und -austeilens. Was ist die Auferstehung anderes als die Liebe Gottes, des Vaters, der seinen Sohn nicht im Stich lässt, ihn aus dem Tod rettet und damit zeigt, dass die Liebe stärker ist als der Tod! Und so könnten wir alle Inhalte unseres Glaubens durchgehen, um sie von der Liebe her zu entschlüsseln. Von der Liebe her erschließt sich ihr tiefster Sinn.
Die Botschaft der Heiligen Nacht ist geheimnisvoll und atemberaubend (das haben die Hirten erlebt), aber sie ist nicht abgehoben und schwierig, sondern sie ist so einfach und naheliegend wie das Leben und die Liebe selbst, ohne die wir nicht leben können. Eines aber ist sie auch: Sie ist anspruchsvoll. Denn das Einfachste ist für uns oft das Schwerste. Und das Naheliegende kommt uns oft nicht in den Sinn: Den nächsten Schritt zu tun, der jetzt ansteht … Uns ehrlich auf den Menschen einzulassen, dem wir gerade begegnen … Daran zu glauben, dass genau der Augenblick, in dem ich gerade lebe, wichtig ist … So wie Jesus selbst sagt: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan …“ (Mt 25,40) Die Begegnung mit ihm ist so naheliegend. Denn im Geheimnis des Menschen begegnen wir dem Geheimnis Gottes, der Mensch geworden ist unter uns.
Liebe Schwestern und Brüder! Wie in jedem Jahr haben wir unsere Christmette eröffnet mit dem Lied „Stille Nacht, heilige Nacht!“. In der zweiten Strophe ist von den Hirten die Rede, die die ersten waren, die Botschaft hörten: „Durch der Engel Halleluja tönt es laut von fern und nah: Christ, der Retter, ist da!“ Ja, so ist sie, die Botschaft der Heiligen Nacht: Fern und nah zugleich. Sie tönt uns entgegen von fern und nah, und das nicht nur in einem räumlichen Sinn. Fern ist sie, denn sie ist neu und gänzlich unerwartet. Und zugleich ist sie nah, d. h. naheliegend und irgendwie vertraut: Denn sie ist die Botschaft vom Leben.