Liebe Schwestern und Brüder!
Wie in jedem Jahr haben wir unsere Christmettenfeier hier im Dom begonnen mit der Verehrung der Krippendarstellung, die sich in der Marienkapelle befindet. Und wir haben dazu gesungen Stille Nacht, heilige Nacht. In den letzten Wochen war häufiger von diesem Lied zu lesen und zu hören. Denn vor genau 200 Jahren wurde das bekannteste deutschsprachige Weihnachtslied zum ersten Mal gesungen in Oberndorf, 20 km nördlich von Salzburg. Seitdem hat dieses Lied einen Siegeszug angetreten, den sich seine Verfasser nicht hätten träumen lassen. In mehr als 300 Sprachen soll das Lied inzwischen übersetzt sein. 2011 wurde es von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt.
Selbst Papst Franziskus hat vor kurzem bekannt, Stille Nacht sei sein weihnachtliches Lieblingslied. Ob Sie nun ähnlich empfinden wie der Papst oder ein anderes Lied als Favoriten haben: fest steht, dass für viele Menschen Weihnachten nicht vorstellbar ist ohne dieses Lied. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich als junger Kaplan einen Liedplan für die Christmette gemacht habe, auf dem Stille Nacht nicht vorgesehen war. Ich musste mir nachher von enttäuschten Mitfeiernden des Gottesdienstes sagen lassen, dass für sie trotz feierlicher Christmette immer noch nicht wirklich Weihnachten sei, weil das Lied gefehlt habe …
Worin, liebe Schwestern und Brüder, mag die Faszination dieses Liedes liegen? Ist es pure Tradition, weil das Lied ebenso zu Weihnachten gehört wie Krippchen und Tannenbaum? Ich glaube, dass es in der Melodie und im Text des Liedes (bei aller Zeitgebundenheit) doch etwas gibt, das mit der Weihnachtsbotschaft selbst zu tun hat. Darin liegt die Faszination des Liedes für so viele Menschen.
Was meine ich damit? Zum einen: Dem Dorforganisten Gruber ist es gelungen, ein Wiegenlied zu komponieren, das sich nicht nur singen, sondern auch summen lässt; ein Lied, das mit einem beruhigend-schaukelnden Rhythmus beginnt, dann an Höhe gewinnt und flehentlich wird, um dann wieder beruhigend hinabzusinken. Es ist ein Lied, um ein Kind in den Schlaf zu singen, aber auch um aufgeschreckte Seelen von Erwachsenen zu beruhigen. Vielleicht hat es tatsächlich damit zu tun, dass das Lied sehr viele Menschen an ihre Kindheit erinnert und damit an das Gefühl einer ursprünglichen Geborgenheit, einem Aufgehobensein, das nicht eigener Leistung entspringt, sondern pures Geschenk ist. Das aber wäre sogar schon eine urtümliche Form der Gotteserfahrung: Denn der Gott, den uns Jesus mit der Heiligen Schrift Israels verkündet, ist kein anderer als der, der uns die gesamte Schöpfung und unser eigenes Leben zum Geschenk gemacht hat und der beides in seinen Händen hält.
Nun träumt die Weihnachtsbotschaft aber nicht von einer Rückkehr in Kindertage, auch wenn es manchen so vorkommen mag. Die Weihnachtsbotschaft ist keine Nostalgie. Sie träumt nicht von einer Rückkehr ins Paradies, in eine heile Welt, die es nicht mehr gibt, sondern sie spricht von der Sehnsucht nach der geheilten Schöpfung. Denn im Kind von Bethlehem kommt Gott in diese Welt, um sich noch enger als zuvor mit ihr zu verbinden und sie dadurch zu retten und zu heilen. Diese Art von Heimweh, diese Sehnsucht nach Versöhnung und Heilung sollen wir uns nicht nehmen lassen! Wem die Sehnsucht nach der geheilten Schöpfung, dem Traum vom Frieden zwischen Gott und den Menschen und für die Welt abhandenkommt, dem bleibt nur der kalte Zynismus. Gründe dafür gäbe es in unserer Zeit genug …
Richtig verstanden ist die weihnachtliche Botschaft, wie sie uns auch in der Musik des Stille Nacht und vieler anderer Weihnachtslieder entgegenkommt, keine Botschaft, die einlullen und einschläfern will, sondern die im Gegenteil ein sehnsuchtsvolles Protestlied ist gegen die bestehenden Verhältnisse, gegen die zerstörerischen Kräfte, die die Schönheit der Schöpfung und die Würde des Menschen Tag für Tag in den Schmutz ziehen. Weihnachten fordert uns auf, uns damit nicht abzufinden.
Und wie steht es um den Text von Stille Nacht, liebe Schwestern und Brüder? Nehmen wir nur die ersten Verse. Sind die nicht altmodisch, sentimental und dazu übertrieben: Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht – nur das traute, hochheilige Paar …? Da war doch nicht nur das Paar an der Krippe. Da waren doch auch die Hirten, die Nachtwache hielten bei ihren Herden! Und heute Nacht sind wir hier. Wir schlafen nicht …, sind im Gottesdienst, um die Botschaft zu hören …
Und doch berührt uns irgendwie die Vorstellung von diesen beiden Menschen, die in dieser Nacht wach sind und zugleich allein mit dem Geheimnis ihres Kindes, auch wenn sich später mehr und mehr Menschen bei der Krippe einstellen. Alles schläft, einsam wacht … Vielleicht rühren diese ersten Worte des berühmten Weihnachtsliedes uns immer wieder an, weil wir darin irgendwie auch uns selbst wiederfinden: Wie oft haben wir den Eindruck, dass die Welt um uns herum trotz aller lärmigen Geschäftigkeit, trotz all der Menschen, die uns umgeben und mit denen wir zusammen sind, schläft, d. h. taub und verschlossen ist, nicht das sieht, was wir sehen; anderes für wichtiger halten als das, was uns wichtig ist.
Das Stille Nacht-Lied singt von der Einsamkeit der Eltern Jesu. Aber die beiden stehen in dieser Nacht irgendwie stellvertretend für die Einsamkeit, die es im Leben eines jeden Menschen gibt, zumal dann, wenn es um sein innerstes Geheimnis geht. Die beiden, die in dieser Nacht an der Krippe stehen, stehen dort nicht nur zu zweit allein mit dem neugeborenen Kind, sondern sie stehen dort auch mit ihrem je persönlichen Weg, den Gott für sie vorgesehen hat. Und auf diesem Weg gibt es das Moment der Einsamkeit, das nicht überspielt werden kann. Denken wir an Marias Gespräch mit dem Engel (vgl. Lk 1,26-38). Denken wir an die Einsamkeit des Josef, der bis in seine Träume mit der Entscheidung ringt, Maria als seine Frau anzunehmen (vgl. Mt 1,18-24).
Liebe Schwestern und Brüder, wir wissen, dass viele Menschen, die allein sind, sich vor dem Weihnachtsfest fürchten, weil sie dann ihre Einsamkeit besonders spüren. Da ist es gut, rechtzeitig zu planen, um in diesen Tagen nicht ganz allein sein zu müssen. Und wie schön ist es, dass Menschen von sich aus andere einladen, damit diese nicht allein bleiben. Aber es gibt auch eine weihnachtliche Einsamkeit, die zum Fest passt und der wir nicht ausweichen sollten, gerade auch diejenigen nicht, die an menschlicher Gemeinschaft keinen Mangel haben. Das ist die Einsamkeit, die es braucht, um einen Abstand vom Alltag gewinnen. Es ist die Einsamkeit, die hilft, zur Ruhe zu kommen. Es ist die Einsamkeit, die uns hilft, in sich zu gehen.
Es gibt eine Einsamkeit, die niederdrückt und traurig macht. Und es gibt die Einsamkeit, die uns überhaupt erst aufmerksam sein lässt für die Stimme Gottes. Es gibt die Einsamkeit, die uns in die Unmittelbarkeit mit Gott bringt. Es ist die Einsamkeit, in der uns unsere unverwechselbare Personalität und Würde bewusst wird. Dieser Art von Einsamkeit sollten wir nicht ausweichen, vor der sollten wir nicht flüchten; im Gegenteil: Wir sollten sie immer wieder suchen, sonst verlieren wir uns selbst.
In den weihnachtlichen Tagen ist die Erwartung, ein gutes Miteinander und Gemeinschaft zu haben, gerade in den Familien besonders hoch. Wir können aber keine wirklich tiefe Gemeinschaft haben, ohne die Bereitschaft und die Gelegenheit, auch allein zu sein. Wie schnell wird eine Gemeinschaft oberflächlich, wenn die einzelnen nicht bereit und in der Lage sind, bei sich selbst einzukehren, in diesem Sinne „einsam“ zu sein.
Liebe Mitchristen, immer wieder wird uns während der Weihnachtszeit die Melodie des Stille Nacht von irgendwo her anfliegen. Nehmen wir es dann als Gelegenheit, uns erstens durch die Melodie dieses Wiegenlieds daran erinnern zu lassen, dass wir von Gottes Macht umgeben und darin geborgen sind. Und nehmen wir das Lied doch zweitens als Erinnerung daran, dass wir alle in einem positiven Sinn einsam sind vor Gott, d. h. unverwechselbar, unvertretbar, persönlich berufen in seine Nähe. Weichen wir dieser ganz persönlichen Nähe zu Gott nicht aus. Sie lässt uns aufatmen. Sie lässt uns still werden. Sie heiligt uns. Sie hilft uns, wacher zu werden für die Welt und für uns selbst. Mit einem Wort: Sie hilft uns, mehr Mensch zu werden nach Gottes Bild.