Liebe Schwestern und Brüder!
Schon seit etlichen Tagen wird in den Medien Rückblick gehalten auf das Jahr 2019. Die wichtigsten Bilder und Ereignisse werden gezeigt, Menschen, die besonderen Mut bewiesen haben oder von schweren Schicksalsschlägen getroffen worden sind, werden präsentiert. An Menschen, die im Laufe des Jahres verstorben sind, wird erinnert … Und immer wieder sind Bilder darunter, die große Mengen von Menschen zeigen: Demonstranten, Menschen, die Veränderungen, Reformen wollen. Wie oft haben wir im Jahr 2019 solche Bilder gesehen: Aus Venezuela etwa, aus Hongkong, aus unserem Partnerland Bolivien. Ich denke auch an die jungen Leute weltweit, die freitags für einen wirksamen Klimaschutz auf die Straße gehen … Für den Bereich der Kirche ist die Bewegung „Maria 2.0“ zu nennen, die im Bundesgebiet doch eine erhebliche Zahl von Frauen mobilisiert hat, die sich für Reformen stark machen.
Und dann gibt es oft die andere Seite: Diejenigen, die gegen bestimmte Veränderungen und Reformen sind: Die Anhänger von Präsident Maduro in Venezuela, die Gelbwesten und Streikenden in Frankreich, in Großbritannien stehen sich Brexit-Befürworter und Brexit-Gegner gegenüber … Oft stehen Gruppen und Kräfte in ihren Anliegen gegeneinander, und so kommt eine wirkliche Veränderung kaum voran. Nicht umsonst sieht man deshalb bei der Berichterstattung oft zornige und empörte Gesichter. Manchmal sind sie regelrecht wutverzerrt. Freilich, Empörung und Zorn sind wichtige Triebkräfte für Veränderung. Sie sind Energie, die für Veränderung notwendig ist. Empörung und Zorn sind gewissermaßen die Rückseite der Medaille, deren Vorderseite heißt: Leidenschaft und Kraft. Wenn Menschen auf die Straße gehen, wenn sie nicht nur am Computer sitzen bleiben und sich auf Kommentare im Internet beschränken, dann zeigen sie, dass ihnen ein Anliegen wichtiger ist als ihre Bequemlichkeit. Und doch, Zorn und Empörung allein sind am Ende wohl zu wenig, die Welt zugunsten des Menschen zu verändern. Deshalb frage ich mich: Wie kommen wir – in Gesellschaft und Kirche – zu notwendigen Veränderungen? Vor allem: Was gibt uns die Kraft zu positiver Veränderung, sodass wir gut und richtig leben können als einzelne, als Familien, als Gesellschaft, als internationale Gemeinschaft; und das nicht nur heute, sondern auch in den kommenden Generationen.
Wenn ich mir als Christ diese Frage stelle, dann setze ich für die Antwort natürlich auch auf die Botschaft des Glaubens. Und ich finde eine Antwort gerade auch in der Botschaft des Weihnachtsfestes. Vielleicht überrascht Sie das, und Sie fragen: Wo liegt denn ausgerechnet in der Weihnachtsbotschaft Veränderungspotenzial? Weihnachten ist doch gerade das Fest, das sogar über den Kreis der Christen hinaus für Beständigkeit steht. Singen wir nicht zu Recht „Alle Jahre wieder“ …? Die Botschaft von Weihnachten ist seit 2.000 Jahren dieselbe. Und wahrscheinlich gibt es in unseren Familien keine Feier, die so sehr von festen Traditionen und Gebräuchen geprägt ist wie Weihnachten. Menschen wollen, dass sich an der Art, Weihnachten zu feiern, möglichst wenig ändert. Das Weihnachtsfest soll im ausgehenden Jahr so etwas sein wie eine – wenn auch kleine – Insel der Beständigkeit und der Verlässlichkeit in der sich rasant verändernden Welt. Weihnachten – eine Art Zufluchtsort der Beständigkeit, für den wir uns wünschen, dass möglichst viel so bleibt, wie es war und wie wir es gewohnt sind. Aber Weihnachten als Signal zu Aufbruch und Veränderung …? Das scheint uns eher abwegig.
Wenn wir, liebe Schwestern und Brüder, die biblischen Texte und die Gebete der Weihnachtsgottesdienste genauer anschauen, dann entdecken wir, dass in ihnen durchaus immer wieder von Veränderung, ja vom „Neu-werden“ die Rede ist. Und eigentlich ist das auch nicht allzu erstaunlich. Wenn nämlich Gott selbst in diese Welt kommt, wenn er also nicht bloß der bleibt, der die Welt erschafft, der ihr erhabenes Gegenüber ist, der von außen und oben Weisungen gibt, sondern wenn er selbst in sie eingeht, dann ändert sich alles. Dann ergibt sich eine völlig neue Situation. Dann werden Gewissheiten über den Haufen geworfen, die unveränderlich schienen. So gesehen, ist es auch gar nicht so verwunderlich, dass man auf die Idee kam, mit der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus sogar eine neue Zeitrechnung zu beginnen und von da an die Geschichte einzuteilen in die Zeit vor und in die Zeit nach Christi Geburt.
Gott kommt, und die Welt wird neu. Aber nicht in dem Sinn, dass von heute auf morgen alles anders wird, sondern dass von nun an der Welt die Kraft zur Veränderung und zur Erneuerung eingepflanzt ist. Erneuerung wird möglich mitten in den bestehenden Verhältnissen der Zeit! Gott drückt nicht die Reset-Taste, um die Welt zu erneuern, sie weiterzubringen. Er schickt keine neue Sintflut, sondern mitten im Alten liegt nun die Kraft zu einem neuen Anfang. Nichts muss auf ewig bleiben wie es ist. Veränderung braucht auch nicht erst die Katastrophe. Gott selbst schenkt sich dem Menschen als Kraft zur Veränderung.
Wie macht er das? Zunächst: Gott tut den ersten Schritt, indem er Mensch wird unter uns Menschen. So zeigt er seine radikale Solidarität mit uns. Er erwartet dafür keine Vorleistung. Er selbst geht gewissermaßen in Vorlage. Die menschliche Erfahrung bestätigt uns: Positive Veränderungen werden dort möglich, wo es Menschen gibt, die den Mut haben, voranzugehen; die nicht bloß die anderen auffordern, sich zu bewegen; die nicht darauf warten, bis alle gehen, sondern selbst das Wagnis eingehen, voranzugehen.
Und dann: Im Unterschied zu den meisten alttestamentlichen Propheten ist die Botschaft Jesu keine Drohbotschaft, sondern Frohe Botschaft; Botschaft, die das Bild vom Reich Gottes zeichnet, d. h. von dem Lebensraum, in dem Gerechtigkeit, Versöhnung und Frieden das Sagen haben; von dem Lebensraum, in dem die Seligpreisungen das Grundgesetz sind (vgl. Mt 5,1-12); in dem Menschen bereit sind, sich ernsthaft auf das Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe einzulassen und zu glauben, dass derjenige, der gibt, empfängt (vgl. Lk 9,24). Gott weiß nur zu gut, dass wir Menschen letztlich und auf Dauer nur dort die Kraft zu positiver Veränderung entwickeln, wo wir für eine Botschaft vom Herzen her gewonnen werden. Erschütterung tut Not, um uns wachzurütteln, aber sie allein reicht ebenso wenig wie Empörung und Zorn (vgl. Tit 2,11ff).
Und schließlich: Im Leben Jesu zeigt uns Gott, dass der Weg der Gerechtigkeit, der Rücksichtnahme, des Einander-Zuvorkommens, der Versöhnung, ja der Liebe möglich ist. Denn es ist klar, dass dieser Weg oft kein Weg der schnellen Erfolge ist. Oft sieht es vielmehr so aus, als ob diejenigen, die sich auf diesen Weg einlassen, die Dummen sind, die Schwachen, die Verlierer, so wie es bei Jesus zunächst auch aussah, als er am Kreuz endete. Deshalb gibt es „frohe Weihnachten“ nur von Ostern her. Der Glanz, der auf der Armseligkeit der Szenerie von Bethlehem liegt, kommt nicht aus ohne das Licht des Ostermorgens, das Licht der Auferstehung, durch die Gott den Weg Jesu bestätigt. Weihnachten und Ostern gehören zusammen wie Krippe und Kreuz. Das Kind von Bethlehem ist keine gute Botschaft ohne den Mann von Nazaret und seinen Weg! Das dürfen wir an Weihnachten nicht vergessen.
Liebe Schwestern und Brüder! Wir leben in einer Welt, die der Erneuerung bedarf, der Kraft der positiven Veränderung, damit wir uns nicht gegenseitig blockieren und zerstreiten, damit gutes Leben für alle Menschen möglich wird, heute und morgen. Die Weihnachtsbotschaft weist uns den Weg. Die vielen Bräuche, die Lieder und Geschichten, die sich um das Weihnachtsfest ranken, lullen uns, wenn wir richtig mit ihnen umgehen, nicht ein, sondern wollen unsere Herzen gewinnen. Und der Blick auf die Krippe, ist recht verstanden, kein nostalgischer Blick zurück, sondern ein Blick nach vorne, in die Zukunft, die Gott uns verheißt und an der wir mitarbeiten sollen: Diese Zukunft ist der Friede nicht nur zwischen Gott und Mensch, zwischen Mensch und Mensch, sondern auch zwischen Mensch und Schöpfung. Amen.