Liebe Mitbrüder im Amt des Bischofs, des Priesters und des Diakons,
liebe Schwestern und Brüder, vor allem liebe Kinder und Jugendliche!
Wir haben es schon zu Beginn gehört: Die Chrisammesse ist die Messe, in der die heiligen Öle geweiht werden. Manchmal wird sie deswegen auch die Heilig-Öl-Messe genannt. Ich möchte mit Ihnen heute morgen einmal danach fragen, was denn damit gemeint ist, wenn wir von »heiligen« Ölen sprechen. Und, grundsätzlicher noch: Was verbirgt sich eigentlich hinter dem Wort »heilig«? Was bedeutet es?
Die Frage legt sich in der Chrisammesse dieses Jahres besonders nahe, weil in den letzten Monaten im Zugehen auf die Heilig-Rock-Wallfahrt immer wieder auch gefragt worden ist, was denn eigentlich »heilig« sei am Heiligen Rock? Und schließlich legt sich die Frage nach der Heiligkeit auch deshalb nahe, weil in diesen Wochen aufgrund der Missbrauchsthematik die Kirche wieder verstärkt in der Kritik ist. Dabei benutzt man allerdings nicht das traditionelle Wort »heilig«, man fragt nach der Glaubwürdigkeit der Kirche.
Ohne Zweifel, die Kirche soll glaubwürdig sein in ihrer Bezeugung der Botschaft Gottes. Ganz besonders gilt das für diejenigen, die den amtlichen Auftrag dazu haben. Umso verheerender ist es, wenn Priester, wenn Seelsorger das Vertrauen, das man ihnen entgegenbringt, schändlich missbrauchen. Die Diskussionen der letzten Wochen zeigen, dass wir die Frage der Glaubwürdigkeit derjenigen, die sich des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht haben, noch einmal neu bedenken müssen. Gerade deshalb möchte ich heute morgen noch einmal mit aller Klarheit hier vor Ihnen als dem Volk Gottes wiederholen, dass es kein Abrücken von der Null-Toleranz gegen dieses Verbrechen gibt.
Zugleich möchte ich aber auch den Meldungen entgegentreten, die den Eindruck vermitteln, wir hätten im Umgang mit dieser bitteren Thematik nichts dazu gelernt, es würde weiter vertuscht und verharmlost. Wenn dieser Eindruck durch Halbinformationen oder bewusst verbreitet wird, dann ist das falsch. Zusammen mit dem Generalvikar und allen, die in diesem Bereich besondere Verantwortung tragen, arbeiten wir mit allen Kräften daran, ohne Abstriche das umzusetzen, wozu wir Bischöfe uns vor zwei Jahren verpflichtet haben.
Doch kehren wir noch einmal zur Ausgangsfrage zurück: Was ist gemeint, wenn wir vom Heiligen sprechen? Oft wird gesagt: »Nur Gott ist heilig«. Doch was heißt das? Zu einem besseren Verständnis hilft mir eine der ganz großen Erzählungen aus dem Alten Testament. Sie ist so wichtig, dass sie auch hier im Dom auf die erste Stufe der Altarinsel gemeißelt ist. Bei jedem Einzug kommt die Einzugsprozession daran vorbei und wird daran erinnert. Es ist die Geschichte von Mose am Dornbusch (Ex 3,1). Das Buch Exodus erzählt: Beim Hüten der Schafe und Ziegen seines Schwiegervaters gerät Mose zum Gottesberg Horeb. Dort begegnet ihm in einem Dornbusch, der brennt und doch nicht verbrennt, Gott. Und als er sich nähert, ruft ihm der Engel Gottes zu: Leg deine Schuhe ab, denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden. Daraufhin entspinnt sich ein Gespräch zwischen Mose und Gott. In dessen Verlauf fragt Mose Gott nach seinem Namen und erhält die rätselhafte Antwort: »Ich bin der ›Ich bin (da)‹« (Ex 3,14). Eine Antwort, die aufs erste Hören klingt, als ob sie gar keine sei. Und doch sagt sie das Entscheidende. Denn oft stellen Namen von Personen Ableitungen dar. Unsere Nachnamen zum Beispiel sagen, aus welcher Familie wir abstammen. Deshalb wäre es auch sinnlos, wenn ich jemandem, der mich nach dem Namen fragt, sagen würde: »Ich bin der Ich bin«.
Bei Gott aber ist das anders: Gott lässt sich eben nicht ableiten. Er stammt von niemandem ab als von sich selbst. Das gehört zu seinem Gott-Sein. Gott hat auch nicht eine bestimmte Funktion oder Aufgabe. In der Umwelt des Mose gab es viele Götter mit bestimmten Aufgaben: Götter, die zuständig waren für die Fruchtbarkeit und für den Regen, für die Weisheit, für den Krieg, für das Leben und für den Tod ...
Der wahre Gott ist nicht der Gott einer bestimmten Zuständigkeit. Genau das wird deutlich in seinem Namen: »Ich bin der ›Ich bin da‹.« Damit sagt Gott: Es gibt mich, und ich bin nicht irgendwelchen Zwecken unterworfen. Darin besteht die Heiligkeit Gottes: Gott ist nicht zu verzwecken. Gott ist nicht einzuspannen in die Absichten dieser Welt. Was er tut, das tut er aus völlig freien Stücken. Das ist seine Heiligkeit.
Der ursprüngliche Wortsinn von »heiligen« in der Sprache der Bibel heißt »absondern«. Etwas, das geheiligt wird, wird herausgenommen aus dem alltäglichen Gebrauch. Das Opfer, das man Gott darbringt, wird geheiligt, indem man es anderen Zwecken entzieht. Ob es ein Tier war, das man opferte, oder die Früchte des Feldes, die man Gott darbrachte: Sie waren nicht mehr zum eigenen Gebrauch oder Verzehr bestimmt.
Liebe Schwestern und Brüder, Sie spüren, dass dieses Verständnis von Heiligkeit in die Nähe dessen kommt, was wir sogar im alltäglichen Sprachgebrauch unter »heilig« verstehen. Zu einem Gegenstand zu sagen: »Der ist mir heilig«, heißt: Diese Sache ist mir so kostbar, dass ich sie nicht hergebe, erst recht nicht verkaufe, um sie zu Geld zu machen. Was mir heilig ist, ist nicht irgendein Mittel zum Zweck. Oft sind es Gegenstände, die mit der eigenen Lebensgeschichte zu tun haben, die uns erinnern an ein ganz bestimmtes Ereignis oder an einen lieben Menschen. Einen solchen Gegenstand wegzugeben, hieße, ein Stück der eigenen Identität abzugeben. Ein Ring kann mir heilig sein oder irgendein Schmuckstück. Es kann aber auch etwas sein, das materiell gesehen überhaupt keinen großen Wert besitzt: ein Brief, ein Stein, ein Foto ...
Schauen wir von hier aus noch einmal auf die heiligen Öle. Wir können nun besser verstehen, in welchem Sinn die Öle heilig sind: Zunächst sind sie in dem Sinn heilig, dass sie für keine anderen Zwecke mehr als im Gottesdienst verwendet werden dürfen. Sodann: Wenn das Chrisamöl bei der Weihe eines Altares oder gar einer Kirche verwendet wird, dann wird damit deutlich: Dieser Raum wird ganz dem Gottesdienst und dem Gebet übergeben. Er ist nicht einfach ein Zweckbau, sondern ein Raum, der sozusagen herausgeschnitten ist aus unseren alltäglichen Zusammenhängen, aus unseren Berechnungen von Kosten und Nutzen.
Was für bestimmte Gegenstände und Räume gilt, gilt ungleich mehr für Menschen: Wenn wir Menschen mit den heiligen Ölen salben (bei der Taufe etwa oder bei der Firmung), dann erinnert diese Salbung zunächst einmal in einem ganz urtümlichen Sinn an die Heiligkeit des menschlichen Lebens überhaupt. Die Salbung erinnert daran, dass gerade der Mensch nie einfach Mittel zum Zweck sein darf, sonst verletze ich seine Würde.
Auch deshalb ist übrigens der sexuelle Missbrauch etwas so Schändliches und schon der Begriff so irreführend: Denn er vermittelt den Eindruck, als ob es neben dem Missbrauch von Menschen noch einen richtigen Gebrauch gäbe. Kein Mensch darf aber einen anderen einfach und ungefragt für sich »gebrauchen«. Der Mensch, Abbild des heiligen Gottes, trägt seinen Sinn in sich. Das gilt auch für den schwachen und gebrechlichen Menschen. Es gilt für den, der nicht ansehnlich ist oder nicht mehr Herr seiner selbst. Nicht umsonst werden gerade auch die Kranken gesalbt.
Für uns Christen sind die Salbungen mit dem heiligen Öl aber nicht bloß Hinweis auf die natürliche Heiligkeit und Unantastbarkeit des Lebens. Sie sind viel mehr: Sie bezeugen und bekräftigen unsere Verbindung zu Jesus Christus, dem Gesalbten (Lk 4,18), dem Heiligen Gottes (Joh 6,69). Wer sich mit dem heiligen Öl salben lässt, bekennt: Ich gehöre zum Gesalbten, Christus, der zu nichts anderem gekommen ist, als von Gott, dem Vater zu künden und uns Menschen unsere ursprüngliche Würde und Heiligkeit neu zu schenken. Für diesen Auftrag stehen in besonderer Weise die Salbungen der Priester und Bischöfe. Sie sollen die Zugehörigkeit zu Christus durch ihren Dienst und ihre Lebensform in besonderer Weise bezeugen. Deshalb werden bei der Priesterweihe den Neugeweihten die geöffneten Handflächen gesalbt: Zeichen der Bereitschaft, Hände und Herz frei zu haben für die Nachfolge Jesu Christi.
In der zweiten Lesung aus dem Buch der Offenbarung schließlich war davon die Rede, dass die Christen sich nicht nur als die von Gott Geheiligten verstehen, sondern dass sie alle zu Königen und Priestern gesalbt worden sind. Sie sind dies nicht, um sich vom Rest der Menschheit abzuheben, sondern um allen Menschen zu helfen, die Heiligkeit, die jedem von seinem Schöpfer her zugedacht ist, zu entdecken und zum Leuchten zu bringen. Dazu sind die Christen, sind wir im Namen Jesu Christi gesalbt und gesandt.
Liebe Schwestern und Brüder! Die Feier der Chrisammesse fordert uns dazu heraus, diese Sendung aufs Neue zu hören und anzunehmen und in diesem Sinne Kirche Jesu Christi zu sein. Amen.