Liebe Mitglieder der internationalen Schönstattfamilie,
liebe Festgäste, liebe Schwestern und Brüder im gemeinsamen Glauben! Lassen Sie mich meine Predigt mit einem persönlichen Bekenntnis beginnen: Es hat mich sehr berührt, dass in der Willkommensfeier vor Beginn der Heiligen Messe so oft die Rede war vom „Heimkommen“ nach Schönstatt. Und es wurde immer wieder gesagt: Willkommen „zuhause“! Es erfüllt mich mit Dankbarkeit und Freude und auch einem gewissen Stolz, Bischof des Bistums sein zu dürfen, in dem Schönstatt liegt und von dem die weltweite Schönstatt-Bewegung ihren Ausgang nahm. Seien Sie deshalb auch von mir sehr herzlich willkommen geheißen hier im Bistum Trier, in dem übrigens nicht nur Schönstatt seine Wurzeln hat. Es ist auch das älteste Bistum in Deutschland. Seine Wurzeln reichen bis ins dritte Jahrhundert.
Liebe Pilgerinnen und Pilger, Sie kommen in diesen Tagen aus der ganzen Welt hierher nach Schönstatt und kehren damit zurück zum Ursprung Ihrer Gemeinschaft. In der Tat gehört es zum Kern eines jeden Jubiläums, dass man dankbar des Anfangs gedenkt, um von diesem Anfang her Gegenwart und Zukunft neu in den Blick zu nehmen.
Zum Anfang Ihrer Gemeinschaft gehört unlösbar die ehemalige Michaelskapelle, die Sie als Ihr „Urheiligtum“ bezeichnen. In ihr hat Pater Kentenich am 18. Oktober 1914 vor seinen Schülern den Vortrag gehalten, der heute als die „Gründungsurkunde“ der Schönstatt-Bewegung gilt. Bis heute hat das Urheiligtum von Schönstatt für die ganze Bewegung eine ganz besondere Bedeutung und Anziehungskraft. Deshalb möchte ich mit Ihnen ein wenig darüber nachdenken, welche Bedeutung ein Heiligtum, ja Heiligkeit überhaupt hat.
Im ursprünglichen Sinn meint „Heiligtum“ einen Ort, der ganz gottgeweiht und damit aus der alltäglichen Welt herausgenommen, ja geradezu herausgeschnitten ist. Heilige Orte sind der Verfügung der Menschen entzogen. Sie gehören ganz Gott. Sie dürfen nicht mehr genutzt werden als Orte, wo man etwas produziert, wo man kauft und verkauft, wo man sich versammelt, es sei denn zum Gottesdienst. Heilige Orte dürfen keinem anderen Zweck mehr dienen als der Verehrung Gottes. Das macht ihre besondere Würde und Heiligkeit aus.
Diese Überzeugung ist allen Religionen gemeinsam. Wenn etwas geheiligt werden soll, seien es Opfergaben oder Personen, so werden sie häufig zum Heiligtum gebracht. Nicht umsonst stehen also am Ziel von Wallfahrten heilige Orte. Im Alten Testament war der heilige Ort, das Heiligtum schlechthin der Tempel in Jerusalem. Zusammen mit dem Berg Zion war er in der Vorstellung Israels so etwas wie der magnetische Anziehungspunkt, ja der Nabel der ganzen Welt. Deshalb sieht der Prophet Jesaja in seiner großen Vision über die Endzeit nicht nur Israel, sondern die vielen Völker der Erde zum Zion pilgern (Jes 2,1-5/ 25,6-9).
Die Lesung dieser Messe, die dem Propheten Ezechiel entnommen ist, setzt demgegenüber einen anderen Akzent: Hier ist der Tempel nicht das Ziel aller Bewegung, sondern der Ausgangspunkt, die Quelle, aus der das Wasser strömt, das alles Leben heilt. Der Tempel, das Heiligtum Israels, wird in der Kraft Gottes sozusagen selbst aktiv, indem es über sich hinaus in die Welt ausströmt und dabei auch nicht halt macht vor den Bereichen, die lebensfeindlich und krank sind.
Es ist genau die Bewegung, die Jesus später seinen Jüngern auftragen wird. Jesus ist ja auch derjenige, der wie kein Zweiter den Tempel in Jerusalem, d. h. den heiligsten Ort Israels infrage gestellt hat. Er spricht nämlich vom „Tempel seines Leibes“ (Joh 2,21). Dieser Tempel ist nicht mehr statisch und starr. Dieser Tempel geht mit. Deshalb gilt: „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!“ (Mk 16,15). Jesus sagt nicht: „Bleibt, wo ihr seid! Verlasst nicht das Heiligtum! Wartet darauf, bis die Welt zu euch kommt!“ Nein, er sagt: „Geht hinaus! Verkündet das Evangelium!“ und er verspricht: „Ich bin bei euch, alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20). Das heißt: Bringt die Welt in Berührung mit meiner heilenden Gegenwart.
Liebe Schwestern und Brüder, wenn Sie anlässlich Ihres Jubiläums hierher zum Urheiligtum nach Schönstatt pilgern, dann ergeht gerade von diesem Ort der Auftrag, mit neuer Begeisterung und neuem Mut in die Welt hinauszugehen, wie Jesus es uns aufgetragen hat. P. Kentenich hat diesen Auftrag sehr genau verstanden und aufgenommen. Wenn er den Mitgliedern seiner Bewegung das Programm mitgibt: „Nicht Weltflucht, sondern Weltdurchdringung“, dann heißt dies, keine Angst vor der Welt zu haben und alle Bereiche des Lebens mit dem Evangelium in Berührung zu bringen. In demselben Sinn verstehe ich auch seinen Aufruf zur „Werktagsheiligkeit“: Schönstätter sollen nicht nur den Tag heiligen, der ausdrücklich der Verehrung Gottes geweiht ist. Nein, sie sollen alle Tage, alle Lebenssituationen und alle Orte heiligen, in die sie hineingestellt sind.
Deshalb ist es gut, dass es nicht nur das Urheiligtum in Schönstatt gibt und nicht nur die vielen Filialheiligtümer, sondern auch das innere Heiligtum jedes einzelnen Herzens. Denn es soll keinen Bereich mehr geben, der nicht mit Gott in Verbindung steht. Nichts soll ausgeklammert werden. Lassen wir den Herrn in bewusster und freier Entscheidung an allen Bereichen unseres Lebens teilhaben! Laden wir ihn in alle Situationen unseres Lebens ein: Nichts ist so alltäglich, nichts so klein, nichts so schwierig oder so dunkel, nichts so schmutzig, so aussichtslos, nichts so verdorben oder so schwach, dass es nicht mit der heilenden Kraft des Herrn in Berührung gebracht werden dürfte.
Davon ist auch Papst Franziskus überzeugt, wenn er uns auffordert, keine Angst davor zu haben, gerade an die „Peripherien“ des Lebens zu gehen, d. h. an die Orte, die nicht so in unserem Blick sind und an die wir nicht so gerne gehen. Denn es gibt keinen Ort, der nicht von Gott geheiligt werden könnte. Mehr noch: Es gibt keinen Ort, der es nicht nötig hätte, von der heilenden Gegenwart Gottes geheiligt zu werden!
Liebe Schwestern und Brüder, denken wir noch einmal daran, dass „heilig“ im ursprünglichen Sinn bedeutet, ganz Gott zu gehören und keinen anderen Zwecken unterworfen zu sein. Das gibt dem Geheiligten eine unverfügbare Würde. Wie sehr bedarf unsere Welt einer neuen Heiligung! Wie oft wird nämlich die Würde der Schöpfung und des Menschen mit Füßen getreten! Da, wo der Mensch nur von seinen Funktionen her verstanden wird, wird er seiner Heiligkeit und Würde beraubt. Wie oft geschieht das: Menschen werden nur als nützliche Arbeitskräfte gesehen, als kaufkräftige Konsumenten von Produkten, als Bürger, von denen vor allem die Stimme für die Politik interessant ist … Wo ein Mensch nicht oder nicht mehr in diesem Sinne nützlich ist und „funktioniert“, verliert er sehr schnell seine Würde und gerät in Gefahr: Das trifft besonders die Schwachen, die Hilflosen, die Arbeitslosen, Kranken und Alten.
Papst Franziskus spricht von Menschen, die in den Augen einer Gesellschaft betrachtet werden wie Abfall, den man „wegwerfen“ kann, weil er nicht mehr gebraucht wird (z. B. Evangelii Gaudium 53). Einer solchen „Wegwerf-Mentalität“ dürfen wir nicht tatenlos zusehen! Denn das Leben des Menschen, jedes Menschen ist in den Augen Gottes heilig und deshalb unantastbar.
Liebe Schwestern und Brüder von Schönstatt, ich bitte Sie, die Wallfahrt zu Ihrem Urheiligtum zu verstehen als einen erneuerten Aufruf zur Heiligkeit. Zeitgleich mit dem 100-jährigen Jubiläum der Gründung von Schönstatt begeht die Kirche als ganze das 50-jährige Jubiläum des Zweiten Vatikanischen Konzils. Gerade dieses Konzil hat uns in Erinnerung gerufen, dass der wesentlichste Auftrag der Kirche und aller Gläubigen die Heiligung der Welt ist. Dazu ist die Kirche Sakrament, d. h. Zeichen und Werkzeug.
Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf das Evangelium. Nach dem Evangelisten Johannes vollbringt Jesus das erste öffentliche Zeichen seiner Macht in Kana anlässlich einer Hochzeit. Wenn wir diese Erzählung nicht schon so oft gehört hätten, müssten wir uns über sie wundern: Jesus setzt seine göttliche Vollmacht ein, um einem Hochzeitspaar aus der Klemme zu helfen! Ist das angemessen? Liegen nicht die anderen Evangelisten richtiger, wenn sie an den Anfang des Wirkens Jesu seine Predigt vom Reich Gottes setzen (vgl. Mt 5-7/ Mk 1,14-15/ Lk 4,16-30), und das erste machtvolle Zeichen in einer Heilung besteht (Mt 8,1-4/ Mk 1,21-28/ Lk 4,31-39)? Ist es nicht übertrieben, dass Maria mit ihrer Bitte Jesus für so etwas Zweitrangiges wie einen Nachschub an Wein in Anspruch nimmt? Wenn bei einer Hochzeit der Wein ausgeht, ist das zwar peinlich, aber es ist beileibe keine lebensbedrohliche Situation.
So sehr uns die Erzählung von der Hochzeit zu Kana also verwundern müsste, umso schöner ist es doch, dass das vierte Evangelium den Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu in dieser Begebenheit sieht. Denn damit wird deutlich, dass sich Jesus – und in ihm Gott selbst – uns Menschen nicht erst dann zuwendet, wenn es lebensbedrohlich wird und es mit menschlichen Kräften keinen Ausweg mehr gibt. Nein, Gott will, dass unser Leben von Anfang an ein Fest sei. Er ist nicht kleinlich. Er gibt mehr als das Notwendige. Er gibt sogar das, was überflüssig erscheint, ja eigentlich zwecklos. (Wahrscheinlich brauchte man die 600 Liter Wein nicht mehr wirklich, da doch das Fest schon vorangeschritten war ...)
Gerade dadurch, dass der Sohn Gottes so handelt, blitzt die ganze Würde und Heiligkeit des Lebens auf: Das Leben ist eben nicht erst da wertvoll, wo es bestimmten Zwecken dient (und seien diese noch so edel). Das menschliche Leben hat seinen Wert, seine Würde, ja seine Heiligkeit in sich selbst, weil es Gabe Gottes ist. Wie schön, dass sich Maria schon in Kana und nicht erst in Situationen großer Not zur mütterlichen Fürsprecherin macht!
Liebe Jubiläumspilgerinnen und –pilger! Mit vielen, vielen anderen Menschen freue ich mich über Ihr Jubiläum und gratuliere Ihnen als Ortsbischof von Schönstatt von Herzen! Mit Ihnen danke ich all denen, die in den letzten 100 Jahren den Weg der Schönstatt-Bewegung als Mitglieder, als Freunde, als Verantwortliche mitgegangen sind und damit den Gründungsimpuls von P. Josef Kentenich weitergetragen haben, auch durch schwere Zeiten hindurch. Ich wünsche Ihnen, dass in der nun angebrochenen Jubiläumszeit jene festliche Freude von Kana spürbar wird. Nehmen Sie, wie die Hochzeitsgäste damals, Jesus und seine Mutter Maria in Ihre Mitte. Seien Sie offen für die großzügigen Überraschungen der Gnade Gottes und entdecken Sie neu die Heiligkeit und Würde des Lebens, zu dem uns Gott berufen hat. Amen.