Liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
In Talkshows und in Zeitungen ist es eine beliebte Methode, Interviewpartner Sätze vervollständigen zu lassen. Das Motto der diesjährigen Caritas-Kampagne Zusammen sind wir Heimat wäre dazu auch sehr geeignet. Der Satz hieße dann: „Heimat ist für mich …“ – Probieren sie es im Stillen. Wie würden Sie den Satz vervollständigen? „Heimat ist für mich … da, wo ich aufgewachsen bin. …, wo ich meinen Dialekt sprechen kann. …, wo man mich nimmt, wie ich bin. …, wo es vertraut riecht. …, wo ich mich auskenne …“ Die kleine Übung zeigt schon, dass Heimat viel mehr ist als ein bestimmter geographischer Ort. Heimat ist ein Ensemble von Bildern, Erfahrungen, Geschichten und Beziehungen.
Kein Wunder, dass das Motiv der Heimat auch in der Bibel eine wichtige Rolle spielt. Dabei ist es wie immer: Was und wie etwas ist, wissen wir am ehesten dann, wenn wir es vermissen. Wir können oft besser das beschreiben, was uns fehlt, als das, was wir haben. So spielt das Motiv der Heimat in der Glaubensgeschichte Israels eine besonders wichtige Rolle in der Zeit des Exils, als Israel vertrieben ist aus dem von Gott versprochenen Land. Wie viele Texte, gerade in den Psalmen (vgl. z.B. Ps 124; 126; 137), sprechen vom Heimweh nach Jerusalem mit seinem Tempel.
Das Bemerkenswerte ist, dass im Laufe der Jahrzehnte im Exil der Blick nicht mehr bloß wehmütig zurückgeht in das verlorene Land. „Heimat“ wird gerade in der Botschaft der Propheten zu einem Sehnsuchts-Ort der Zukunft. Denken wir nur an die prophetische Vision des Jesaja vom Zionsberg, zu dem einmal alle Völker hinpilgern werden, um sich dort zu versammeln und Heimat zu finden (Jes 2,2ff; 25,6ff). Aus dem Verlust der eigenen Heimat erwächst eine Sehnsucht, ja die Verheißung einer Heimat nicht nur für Israel, sondern für alle Völker. Diese neue Heimat ist Ort der Versöhnung und des Friedens für alle.
Nach unserem christlichen Verständnis kommt Gott dieser urmenschlichen Sehnsucht entgegen, indem er Mensch wird in Jesus Christus, indem er in seinem Sohn Jesus Christus (bildlich gesprochen) seine „eigene Heimat“, die ihm „vertraute Umgebung“ verlässt und in die Fremde geht, in das, was er selbst nicht ist: in die Welt. In Jesus nimmt Gott das Los der Fremde auf sich, um uns Heimat bei ihm zu geben. Das Zielbild dafür ist die himmlische Stadt, deren Mitte Gott selbst ist und deren Tore Tag und Nacht geöffnet stehen, damit die Völker in der Vielfalt ihrer Kulturen dort einziehen können. Die Bedingung für den Eintritt besteht darin, selbst ein Kind des Friedens zu sein. Gewalttäter, Lügner und Gegner Gottes haben keinen Zutritt zu dieser Stadt (Offb 21,24-27).
Solange die Geschichte dieser Welt andauert, bleibt dies Vision und Verheißung. Aber nach unserem Verständnis ist der Grundstein dieser Stadt mit Jesus bereits gelegt, hat die Erfüllung der Verheißung begonnen. Mit allen, die an Jesus glauben und ihm nachfolgen, gewinnt diese Stadt an Bürgern, wächst sie.
Liebe Schwestern und Brüder! Wenn die Caritas uns zu dem Bekenntnis einlädt Zusammen sind wir Heimat, dann kann es uns als Christinnen und Christen eigentlich nicht schwerfallen, diesem Bekenntnis zuzustimmen. Denn einerseits wissen wir aus unserer schlichten menschlichen Erfahrung heraus, wie schön und wichtig es ist, Heimat zu haben. Andererseits wissen wir aus unserer Erfahrung heraus auch, dass es Situationen geben kann, in denen ich mich mitten in der Heimat fremd fühle, weil ich nicht verstanden werde mit meinen Gefühlen, meinen Überzeugungen, vielleicht gerade aufgrund meines Glaubens, der von anderen nicht geteilt wird. Gerade Christen haben schon oft mitten in ihrer angestammten, heimatlichen Umgebung das Gefühl der Fremdheit machen müssen. Zugespitzt formuliert es der Apostel im Philipperbrief, wenn er schreibt: Unsere Heimat ist im Himmel (Phil 3,20). Denn hier auf der Erde werden wir die umfassende Heimaterfahrung, die wir uns wünschen, nicht machen.
Und zugleich gibt es für Christen, gerade auch für Katholiken, die umgekehrte Erfahrung: Mitten in einem fremden Land mit anderer Sprache, anderer Kultur kann es durch den gemeinsamen Glauben und die Zugehörigkeit zur weltumspannenden Kirche eine überraschende Form von Nähe und Vertrautheit geben, wenn wir etwa eine Kirche betreten, an einem Gottesdienst teilnehmen oder mit Christen vor Ort zusammentreffen.
Weil es also im Christsein beides gibt, die Erfahrung von Heimat und Fremde, ja, weil die beiden Erfahrungen fast irgendwie zusammengehören, sind wir nach meiner Überzeugung als Glaubende besonders dazu befähigt und herausgefordert, den Menschen zu helfen, die sich unbeheimatet vorkommen in unserer Gesellschaft und in unserem Land:
Diesen Menschen die Erfahrung von Heimat und Zugehörigkeit zu ermöglichen, kann nur gelingen, wenn wir Heimat nicht zu eng verstehen. Denn Heimat ist mehr als ein bestimmter Ort, als eine bestimmte Lebensweise, als das seit Kindertagen vertraute Umfeld. Heimat ist nicht dasselbe wie Nostalgie! Auch dafür setzt sich die Kirche und ihre Caritas ein, wenn sie dazu ermutigt, weitherzig zu sein, d. h. Gemeinschaft und Heimat nicht exklusiv, sondern inklusiv, bunt und vielfältig zu verstehen.
Liebe Schwestern und Brüder, damit sind wir beim Evangelium des heutigen Sonntags: In ihm geht es ja nicht nur um Schuld und Vergebung, sondern darum, das Gute, das wir durch Gott und das Leben erfahren, großherzig mit anderen zu teilen. Der König aus dem Gleichnis macht seinem Diener keinen Vorwurf daraus, dass er ihm die gewaltige Schuld nicht sofort zurückzahlen kann. Im Gegenteil: Er ist nicht nur geduldig, sondern er ist so großzügig, dass er dem Diener sogar die ganze Schuld erlässt. Was der König dagegen nicht verzeiht, ist die Tatsache, dass der so beschenkte Diener selbst engherzig bleibt und seinem Kollegen gegenüber hart und kalt reagiert.
Was Jesus mit diesem Gleichnis sagen will, ist: Gott beschenkt uns mit der Gabe des Lebens und seiner Liebe, ohne dass wir Menschen uns dies verdient hätten. Gottes Wunsch aber ist es, dass sich seine Großzügigkeit in unserem Leben und Handeln auswirkt, dass wir in der Konsequenz unser Herz nicht verschließen, nicht kleinlich sind und berechnend, unserem Nächsten nicht nur das geben, was ihm rechtlich zusteht oder wir gerade entbehren können.
Papst Franziskus hat zu dieser Stelle im Matthäusevangelium einmal sehr treffend beobachtet: „Wenn wir den anderen etwas schulden, erwarten wir Barmherzigkeit; wenn wir dagegen eine Schuldforderung haben, rufen wir nach Gerechtigkeit! Und alle handeln wir so, alle. Das ist nicht die Reaktion des Jüngers Christi, und das kann nicht der Stil christlichen Lebens sein.“ (Assisi, 4. August 2016)
Der Caritassonntag fordert uns dazu auf, von Gottes Barmherzigkeit und Großzügigkeit zu lernen, nicht bloß, weil uns das aufgegeben ist, sondern weil wir selbst daraus leben Tag für Tag. Amen.