Liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
In der Karwoche hören wir immer zweimal die Passion: Am Karfreitag ist es immer die Passion nach dem Evangelisten Johannes. Es ist der Passionsbericht, in dem am stärksten die Hoheit und Souveränität Jesu, selbst im Leiden, betont wird. Am Palmsonntag dagegen wird im Wechsel der Jahre immer eine Passion der anderen drei Evangelisten vorgelesen. Dadurch bieten die Liturgien der Heiligen Woche die Chance, die feinen, aber nicht unwichtigen Unterschiede in den Berichten der Evangelisten zu hören.
Ich möchte ihre Aufmerksamkeit heute Nachmittag nur auf eine Stelle im Passionsbericht lenken: Es ist die Szene, in der Petrus seinen Herrn verleugnet. Wir haben es eben wieder gehört (Joh 18,16f.25-27): Nicht nur einmal, sondern dreimal behauptet Petrus, Jesus überhaupt nicht zu kennen. Wenn ich Sie fragen würde, wie die Textpassage lautet, nachdem Petrus zum dritten Mal seinen Herrn verleugnet hat, so würden wohl sagen: und gleich darauf krähte ein Hahn. Vielleicht würden Sie noch hinzufügen: und Petrus begann zu weinen. Das Bemerkenswerte ist, dass der Evangelist Johannes davon nichts sagt. Johannes belässt es bei den äußeren Fakten: Verleugnung und Hahnenschrei. Es sind die anderen Evangelisten, die von den Tränen des Petrus berichten: Nach Markus erinnert sich Petrus beim Hahnenschrei daran, dass Jesus prophezeit hatte, dass Petrus ihn verleugnen werde und er beginnt zu weinen (Mk 14,72). Matthäus setzt hinzu, dass Petrus „bitterlich“ weint (Mt 26,75). Wir brauchen nicht viel Fantasie, um uns vorzustellen, dass das stimmt: Das Weinen ist nur eine natürliche Reaktion, als Petrus merkt, was er da getan hat. Welche Enttäuschung über sich selbst: Dass ausgerechnet er, der Sprecher des Zwölferkreises, so kläglich versagt!
Beim Evangelisten Lukas hat diese Stelle noch einmal ein besonderes Gepräge: Denn in der Lukas Passion ist da nicht nur der Hahnenschrei, der die Erschütterung des Petrus auslöst, sondern es kommt im Hof des Hohenpriesters sogar noch einmal zu einer Begegnung zwischen Petrus und Jesus: Jesus habe sich zu Petrus gewandt und ihn angeschaut. Dieser Blick sei es gewesen, der dem Apostel bittere Tränen in die Augen getrieben habe (Lk 22,61f). Stellen wir uns diesen Blick Jesu vor: Welche Enttäuschung wird darin gelegen haben und welche Trauer über das Versagen seines Freundes. Was in diesem Blick aber nicht lag, war sicher Rechthaberei, nach dem Motto: Siehst Du, ich habe es Dir ja schon prophezeit. Und wahrscheinlich lag in diesem Blick auch keine Anklage. Ansonsten wäre es nicht verwunderlich, wenn auch Petrus sich wie Judas einen Strick genommen hätte angesichts seines schrecklichen Versagens. Aber es kommt nicht so. Im Gegenteil: Nach Ostern wird dem Petrus eine tragende Rolle, die tragende Rolle für die junge Kirche anvertraut.
Dass es so kommen konnte, muss daran liegen, dass in dem Blick Jesu noch mehr war: Da waren nicht nur Enttäuschung und Trauer, sondern da war auch das Versprechen der bleibenden Freundschaft über die Untat der Verleugnung hinaus. Und es wird in diesem Blick auch schon Vergebung sichtbar gewesen sein. Ob Simon Petrus in den Augen Jesu schon das gesehen hat, was Jesus später zum Vater über die Soldaten sagen wird, die ihn kreuzigen: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun (Lk 24,34). Konnte Petrus das auch schon für sich im Blick Jesu sehen? „Vater, vergib ihm. Denn er weiß nicht, was er tut.“ Jedenfalls werden die Tränen des Petrus nicht nur Tränen des Schuldgefühls über sein Versagen gewesen sein, sondern auch Tränen der Rührung über die empfundene Freundschaft.
Der Blick, den Petrus traf, ist der Blick, mit dem Jesus nach Lukas so viele Menschen liebevoll angeschaut hat: den Zöllner Levi an seiner Zollstation, der aufsteht und Jesus folgt (Lk 5,27ff), den korrupten Zachäus, den Jesus mit seinen Blick vom Baum lockt (Lk 19,2); aber es ist auch der Blick, von dem Jesus in seinen Gleichnissen spricht: Der barmherzige Blick des Samariters, der im Unterschied zu allen anderen den Geschlagenen am Straßenrand wahrnimmt (Lk 10,30-36); der Blick des barmherzigen Vaters aus dem Gleichnis, der den verlorenen Sohn schon aus der Ferne heimkommen sieht (Lk 15,20). Auch im Blick des Vaters war sicher schon die Vergebung zu sehen. Sollten nicht auch in dieser Begegnung des Sohnes mit dem wieder gefundenen Vater Tränen geflossen?
Liebe Schwestern und Brüder, Papst Franziskus hat am Aschermittwoch daran erinnert, dass es in der spirituellen Tradition der Kirche die „Gabe der Tränen“ gibt. Das klingt für uns fremd. Was soll damit gemeint sein – Gabe der Tränen? Mit dieser Gabe ist keine Weinerlichkeit gemeint, kein Selbstmitleid. Es geht auch nicht um eine theatralische Zurschaustellung von Gefühlen. Vielmehr führen uns die Passionserzählungen über Petrus in die richtige Richtung: Es geht um die Gabe und die Bereitschaft, sich innerlich berühren zu lassen, nicht abzustumpfen. Der Papst hat angeregt, dass wir als Gläubige stärker um die Gabe der Tränen bitten sollen? Aber ist das gesund? Geht das denn in unserer Welt angesichts all dessen, was wir an Leid hören und erleben? Wir brauchen nur an die zurückliegende Woche zu denken mit der bodenlosen Tragödie des Absturzes der German Wings-Maschine in den südfranzösischen Alpen. Es war ein gutes Zeichen, dass nicht direkt wieder zur Tagesordnung übergegangen wurde. Auch in der Berichterstattung wurde der Trauer Raum gegeben. Und es wird ja auch noch einmal einen eigenen Gottesdienst dazu in Köln geben. Trotzdem, die Welt geht weiter. Das wissen wir. Wie schnell rücken aktuelle Ereignisse in die zweite und dritte Reihe … Kommen Ihnen eigentlich manchmal die Tränen, wenn Sie die Nachrichten sehen? Tränen über das Leid von Menschen, aber vielleicht auch Tränen der Rührung über eine gelungene Rettung, über politische Durchbrüche, Schritte zum Frieden …?
Papst Franziskus spricht ja immer wieder von der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“. Man könnte fragen: Ist das nicht irgendwie auch ein Schutzmechanismus, um überhaupt mit all dem klar zukommen, was auf uns einströmt, das persönliche Leben miteingeschlossen. Aber der Papst hat recht: Wenn wir der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ freien Lauf lassen, dann wird das noch mehr Menschenleben kosten und uns die Menschlichkeit rauben. Glauben wir nicht, dass unsere Gleichgültigkeit nur anderen schadet. Sie wird auch uns deformieren, wenn wir ihr nachgeben. Der Weg kann deshalb nicht heißen, sich mehr und mehr abzuschotten und abzuhärten. Deshalb der Vorschlag des Papstes zur Gabe der Tränen. Wenn das aber nicht dazu führen soll, dass wir in einen permanenten Weltschmerz verfallen oder uns überfordern, dann braucht es dazu Hilfe. Sie kann christlich gesehen nur darin liegen, dass wir dem Herrn sagen: „Herr, ich will nicht gleichgültig werden und nicht abstumpfen, will empfindsam bleiben, will mit offenen Augen leben, will sie nicht verschließen vor dieser Welt. Aber dann musst du mir helfen, indem du mich nicht aus dem Blick lässt, indem du mich anschaust. Lass mich deine Nähe spüren, so wie Petrus sie im Hof des Hohenpriesters trotz aller Beschämung durch deinen Blick gespürt hat und lass mich geborgen sein in deinem Blick.“
Mir persönlich hilft zu dieser Haltung ein Gebet des Theologen Romano Guardini, das ich regelmäßig bete und das sich in unserem neuen Gotteslob findet (GL 19.1). Es lautet:
Immerfort empfange ich mich aus deiner Hand./
Das ist meine Wahrheit und meine Freude.
Immerfort blickt mich dein Auge an, und ich lebe aus deinem Blick,
du mein Schöpfer und mein Heil.
Lehre mich, in der Stille deiner Gegenwart das Geheimnis zu verstehen, das ich bin.
Und das ich bin durch und vor dir und für dich.
Im Geist dieses Gebetes könnten wir uns nachher bei der Kreuzverehrung dem Gekreuzigten nähern, ihn anschauen und dabei seinen Blick suchen, um uns von ihm treffen zu lassen. Amen