Liebe Schwestern und Brüder!
Wenn wir die Geschichte des Leidens Jesu hören und auf sein Kreuz schauen, dann können wir das nie tun im bloßen Blick zurück, auf das Damals. Unwillkürlich kommen uns die Bilder und Schicksale von Menschen in den Sinn, die heute leiden und ein schweres Kreuz zu tragen haben. Die Verbindung von Damals und Heute entspricht ganz dem Selbstverständnis Jesu, der sein Leiden und seinen Tod als einen Akt tiefster Solidarität mit uns Menschen verstanden hat. Insofern ist es nicht abwegig, dass sich in den Blick auf den Gekreuzigten die Bilder der Leiden unserer Zeit mischen.
Wie viele Bilder des Leidens sehen wir tagtäglich! In der digitalen Welt werden uns nahezu in Echtzeit Bilder und Informationen über Kriege, Unglücke und Katastrophen rund um den Globus geliefert. Und es reißt nicht ab:
All das hören wir, es bewegt uns, aber – so habe ich den Eindruck – es überfordert uns zugleich: die einfachen Bürger, aber auch die politisch Verantwortlichen. Denn hinzu kommen ja noch die Schwierigkeiten, die jeder Mensch im eigenen Leben erfährt, die kleinen und großen persönlichen Katastrophen in der Familie, im Bekanntenkreis… So stehen wir in der Gefahr abzustumpfen: Es flimmern die Bilder, es laufen die Breaking News, aber wir lassen sie irgendwie an uns vorbeiziehen. Kein Wunder auch, dass Menschen sich auf sich selbst zurückziehen und sagen: „Ich muss mich um mein eigenes Leben kümmern. Damit habe ich genug zu tun.“
Der Gottesdienst am Karfreitag konfrontiert uns auf seine Weise mit der ganzen Abgründigkeit und dem Schmerz menschlichen Lebens: Da wird ein unschuldiges junges Leben verraten und verkauft, gefoltert und sinnlos umgebracht. Und auch wenn die Erinnerung an das, was damals in Jerusalem geschah, durch Riten, Gebete und Gesänge in eine liturgische Form gebracht ist, so hat es doch gerade dadurch wieder eine eigene Wucht.
„Muss denn ein derartiges Gedenken überhaupt sein?“, könnte man fragen. Wir wissen doch, dass der Karfreitag nicht die Endstation ist, sondern dass das Geschick Jesu am Ende einen guten Ausgang nimmt. Warum überspringen wir eigentlich nicht den Karfreitag und gehen direkt zum Osterfest über? Wäre das nicht wohltuender? Seit der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes begehen wir ja auch nicht mehr wie früher den 17. Juni als Feiertag, der ja vor allem ein schmerzlicher Gedenktag an den gescheiterten Volksaufstand in der DDR war, sondern den freudigen 3. Oktober.
Hat die Feier des Karfreitags mit einer Schmerzverliebtheit der Christen zu tun? Nein, natürlich nicht. Der Karfreitag will nicht unser Leben beschweren, will uns nicht im Weltschmerz bestärken, vielmehr ist er ein Beweis für die Realitätstauglichkeit unseres Glaubens. Denn auch wenn Christus schon sein Ostern erlebt hat und ihm sein österliches Leben nie mehr entrissen werden kann, so steht die Welt doch immer noch in der Spannung zwischen Karfreitag und Ostern. Würden wir bloß das Osterhalleluja singen, keine Passionslieder, dann hätten die Kritiker Recht, die den Glauben für ein Betäubungsmittel halten, das den Schmerz verdrängt um den Preis der Vernebelung.
Nein, der Karfreitag ist trotz allem Schmerz ein Hoffnungstag ganz eigener Art, nicht jubelnd, sondern verhalten. Wie ist das zu verstehen?
Papst Franziskus hat vor vier Jahren beim Weltjugendtag in Rio de Janeiro beim gemeinsamen Kreuzweg mit den Jugendlichen gesagt: Niemand kann das Kreuz Jesu berühren, ohne etwas von sich selbst darauf zurückzulassen und ohne etwas vom Kreuz Jesu in das eigene Leben hineinzutragen. Ein wunderbarer Satz, der sich mir eingeprägt hat. Und, so sagte der Papst, was auch immer wir auf dem Kreuz zurücklassen, das Kreuz hinterlässt in uns etwas, das niemand sonst uns geben kann: die Gewissheit der treuen Liebe Gottes zu uns.
Feiern wir in dieser dankbaren Gewissheit die Liturgie des Karfreitags.