Ist Jesus am Ende seines Weges seiner eigenen Lehre untreu geworden? In der Bergpredigt, die ja so etwas wie das Grundgesetz seiner Lehre ist, trägt Jesus den Jüngern ausdrücklich auf: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin“. (Mt 5,39) Doch was tut er, als er selbst in diese Situation gerät? Er selbst reagiert beim Verhör durch den Hohenpriester Hannas augenscheinlich anders: Als einer der Knechte, der Jesu Verhalten gegenüber dem Hohenpriester als ungehörig empfindet, ihm eine Ohrfeige gibt, hält Jesus ihm nicht bereitwillig die andere Wange hin, sondern antwortet selbstbewusst: „Wenn es nicht recht war, was ich gesagt habe, dann weise es nach; wenn es aber recht war, warum schlägst du mich?“ (Joh 18,23)
Zugegeben, Jesus schlägt nicht zurück, und er verteidigt sich auch nicht wirklich, aber indem er eine Gegenfrage stellt, tritt er der Gewalt des Knechtes entgegen. Die Szene mag im Ganzen der Passion nur eine winzige Momentaufnahme sein und angesichts der Gewalt, die Jesus im Fortgang der Passion noch erdulden wird, spielt diese Ohrfeige im Grunde keine Rolle. Doch der Evangelist empfand die Szene als so wichtig, dass er sie überliefert hat. Und er hat damit Recht gehabt. Denn sie macht etwas davon deutlich, wie Jesus in seinem Leben und in seinem Sterben das Böse überwinden und uns erlösen will.
Die Szene zeigt, dass die Bereitschaft Jesu, lieber Gewalt zu erleiden, als selbst Gewalt auszuüben, nicht verwechselt werden darf mit einem weichlichen oder wehleidigen Auftreten. Die Gewaltlosigkeit, die Jesus in der Bergpredigt verkündet und die er selbst lebt, bedeutet keine Widerstandslosigkeit. Im Gegenteil: Denken wir nur an die vielen Male, in denen Jesus während seines öffentlichen Wirkens mit dem Bösen, etwa in Gestalt von Dämonen, konfrontiert wird: Nie weicht er zurück, sondern er tritt dem Bösen entschieden, ja regelrecht machtvoll entgegen (Mk 1,23ff; 5,1-14; 9,17-27 etc.).
Aber wie zeigt Jesus seine Macht? Nicht, indem er Gewalt anwendet, sondern indem er die Wahrheit spricht, d. h. das Böse als Böses entlarvt, die Lüge als Lüge und das Unrecht beim Namen nennt. Jesus zieht eine klare Grenze zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Herzenshärte und Menschlichkeit, zwischen Schein und Wirklichkeit … Da ist er wahrhaftig kein „softer“ Zeitgenosse. Nicht umsonst geraten seine Gegner in Rage. Sie fühlen sich ertappt (vgl. Mt 21,45).
Liebe Schwestern und Brüder, ja, der Karfreitag ist der Tag des Geschlagen-Werdens, des Leidens, der Wehrlosigkeit, der Ohnmacht. Aber er ist nicht nur das. Denn Jesus schlittert ja nicht irgendwie kraft- und widerstandslos in das Leiden hinein, sondern er geht aktiv darauf zu. Er nimmt diese Situation bewusst an. Deshalb ist schon der Karfreitag (und nicht erst Ostern) auch ein Tag, an dem Jesu Stärke und Autorität sichtbar werden. Gerade in der Passion, wie sie der Evangelist Johannes erzählt, zeigt Jesus gegenüber den höchsten religiösen und politischen Autoritäten seiner Zeit hoheitliche Züge. Manches Mal weiß man im Verlauf des Passionsberichts gar nicht so recht, wer sich hier vor wem zu rechtfertigen hat: Ist es wirklich Jesus, der vor Hannas, vor Kajaphas und vor Pilatus Rede und Antwort stehen muss, oder sind es die anderen, die vor der Souveränität Jesu irgendwie hilflos wirken?
Seine Souveränität gewinnt Jesus nicht durch äußere Machtmittel – da sind eben keine Legionen, die für ihn kämpfen (Joh 18,36) – und nicht durch ein Drohpotenzial, das hinter ihm steht, sondern allein dadurch, dass er von der Wahrheit Zeugnis ablegt, wie er selbst sagt (Joh 18,37). So ist der Karfreitag auch die Konsequenz aus Jesu Unerschrockenheit, für die Wahrheit einzutreten: Die Wahrheit über Gott und den Menschen.
Daher ist der Karfreitag für uns ein Tag, der uns herausfordert, uns nach dem Beispiel Jesu für die Wahrheit einzusetzen, uns nicht mit Halbwahrheiten und „gefaketen“ Wahrheiten zufriedenzugeben, sondern aufrichtig nach der Wahrheit zu suchen. Der Karfreitag mahnt uns dazu, der Lüge in unserer Welt Grenzen zu setzen bzw. sie aufzudecken, uns nicht wegzuducken. Den Karfreitag können wir nur dann richtig feiern, wenn wir bereit sind, Unrecht beim Namen zu nennen und uns einzusetzen für Menschen, denen Unrecht getan wird, die Opfer der Stärke anderer werden.
In unserer Welt vernetzten Welt haben wir manches Mal den Eindruck, als ob uns angesichts der Schnelligkeit und Fülle von Informationen, die uns erreichen, die Unterscheidung zwischen richtig und falsch abhandengekommen ist: Wer will sich in dem ganzen Wust von Nachrichten und Behauptungen noch auskennen!? Aber lassen wir uns nicht irremachen: Wenn wir ehrlich auf unser Gewissen hören und uns immer wieder Orientierung geben lassen durch die Botschaft des Evangeliums, dann lassen sich sehr wohl Unterscheidungen treffen über das, was wahr ist und was falsch, was dem Menschen dient und was nicht, was aufbaut und was zerstört. Nicht selten reichen dazu schon der gesunde Menschenverstand und eine Portion menschliches Mitgefühl. Haben wir den Mut, beides zu benutzen!
Liebe Schwestern und Brüder, der Karfreitag ist in besonderer Weise der Tag der Wahrheit, für die Jesus in die Welt gekommen ist. Wahrheit, sowie Jesus sie versteht, meint nicht Rechthaberei. Denn die Wahrheit, für die Jesus eintritt und die er selbst bringt, ja verkörpert, ist die Wahrheit, die von der Liebe getragen ist. Denn nur durch die Kraft der Liebe setzt sich die Wahrheit letztlich durch, erreicht sie die Herzen von Menschen und verändert sie. Dazu braucht sie den langen Atem Gottes und muss viele schmerzliche Rückschläge verkraften.
„Widerstand und Ergebung“, so heißt der bekannte Titel der Sammlung von Briefen und Aufzeichnungen Dietrich Bonhoeffers aus seiner Haft in Berlin-Tegel. Auch er wurde das Opfer eines verbrecherischen Regimes. Widerstand und Ergebung, darin ist der Grundrhythmus des christlichen Zeugnisses ausgedrückt. Bitten wir den gekreuzigten Herrn darum [vielleicht besonders, wenn wir gleich in der Kreuzverehrung auf ihn zugehen], dass er uns hilft zu unterscheiden, wann wir um Gottes und der Menschen willen zu widerstehen haben und wann es heißt, sich zu ergeben, weil nicht die Gewalt, sondern die Liebe siegt.