„Sich an Christus zu binden, gibt Halt in den Untiefen des Lebens, hilft Versuchungen und Anfechtungen zu bestehen.“ Das hat Bischof Dr. Stephan Ackermann am Karfreitag (10. April) im Trierer Dom betont. Dann sei es auch nicht nötig, die Ohren oder die Augen vor der Welt zu verschließen, um „halbwegs hindurchzukommen. Christen sind Menschen mit offenen Augen und offenen Ohren und wachem Herzen“.
1. Die Corona-Pandemie legt uns in diesen Tagen herbe Beschränkungen auf, indem wir uns nicht wie üblich zu den Gottesdiensten versammeln können. Wir haben nur die Möglichkeit, in kleinen Gruppen in den Kirchen und zu Hause zusammenzukommen und uns über verschiedene Kommunikationsmittel miteinander zu vernetzen.
Aber warum nicht die Beschränkungen als Chance nehmen, um Möglichkeiten zu nutzen, die wir sonst zum Beispiel in der Verkündigung nicht haben. Wenn Sie schon in den letzten Tagen den Gottesdienst hier im Dom über den Livestream mitgefeiert haben, dann haben Sie gemerkt, dass die Verantwortlichen für die Übertragung Ihnen zwischendurch Bilder aus dem Dom anbieten, die Sie daheim zur Meditation und zum Gebet anregen wollen.
Ich möchte das auch für die Karfreitagspredigt nutzen und Ihren Blick lenken auf ein Bild, das sich in unserem Dom befindet und uns helfen kann, die Botschaft des Karfreitags tiefer zu verstehen. Das Bild befindet sich hier vorne auf der Altarinsel, eingeritzt wie eine Art Relief. Daher ist es in der Regel für die Besucher des Domes nur schwer zu entdecken.
Es ist übrigens nicht das einzige Bild auf der Altarinsel. Im Gegenteil: Es findet sich eine Vielzahl von verschiedenen Motiven in den Stein eingemeißelt. Es sind Bilder aus der Heilsgeschichte: Die Erschaffung von Adam und Eva, die Vertreibung aus dem Paradies, der Bau der Arche, die Sandalen des Mose … Aber da finden sich auch Bilder aus der griechischen Sagenwelt: Das Labyrinth und Orpheus, den sagenumwobenen Sänger und Saitenspieler, der mit seiner Musik nicht nur die Herzen der Menschen berührte, sondern angeblich auch wilde Tiere zähmen, ja sogar die Herrscher der Unterwelt erweichen konnte.
2. Und es findet sich auf unserer Altarinsel auch das Bild von Odysseus, dem Kämpfer von Troja, der nach der Erzählung des griechischen Dichters Homer erst nach einer zehnjährigen Irrfahrt, eben „Odyssee“, wieder in der Heimat ankommt.
Zu den vielen Gefahren, die Odysseus mit seinen Gefährten zu bestehen hat, gehört auch die Begegnung mit den sogenannten Sirenen, jenen Fabelwesen, die auf Klippen am Meer hausten und verführerisch und gefährlich zugleich waren (12. Gesang). Durch ihren Gesang versuchten sie, alle vorüberfahrenden Schiffer anzulocken und sie in den Tod zu stürzen.
Der mutige Odysseus will seine Gefährten sicher an dieser Gefahr vorbeibringen. Deshalb verstopft er ihnen die Ohren mit Wachs, um nicht der Versuchung zu erliegen. Odysseus selbst will sich dem gefährlichen Gesang aussetzen. Dazu lässt er sich zur eigenen Sicherheit aufrecht am Mastbaum des Schiffes festbinden und gibt Befehl, ihn keinesfalls loszubinden. Als sie die gefährliche Stelle passiert haben und der Gesang der Sirenen wieder nachlässt, können die Freunde den Wachs aus den Ohren nehmen, und sie sind der tödlichen Gefahr entronnen.
Die Prediger in der Frühzeit der Kirche kannten diese Geschichte natürlich und sahen in ihr so etwas wie eine Vorahnung, ein Hinweis auf den Gekreuzigten: Denn tatsächlich ähnelt die Silhouette von Odysseus, der am Schiffsmast mit dem Querbalken festgebunden ist, Christus am Kreuz, der sich auch nicht in göttlicher Macht vom Kreuz losmacht, sondern aushält und dadurch die Seinen durch die todbringenden Fluten der Welt hindurch rettet.
3. Aber die Deutung der frühen Christen ging noch weiter: Sie sahen in Odysseus nicht nur ein Bild für Christus, sondern auch für sich selbst, d. h. für diejenigen, die sich durch den Glauben und die Taufe an Christus gebunden haben.
Sich an Christus zu binden, gibt Halt in den Untiefen des Lebens, hilft Versuchungen und Anfechtungen zu bestehen.
Dazu ist es gerade nicht nötig, die Ohren vor der Welt zu verschließen (oder auch die Augen), um halbwegs hindurchzukommen. Nein, Christen sind Menschen mit offenen Augen und offenen Ohren und wachem Herzen. Der Blick auf Christus, den Geschundenen und Hilflosen hilft, den Blick nicht abzuwenden, wenn ich mich von den Problemen und Schmerzen dieser Welt überfordert fühle. Denn ich muss dann nicht nur die Probleme und Schmerzen sehen, sondern kann in und hinter all dem auch das Gesicht des Schmerzensmannes sehen, der zum Bruder aller geworden ist.
Das gilt auch für unsere aktuelle Situation: Als Christen glauben wir daran, dass Jesus in das Boot unseres menschlichen Lebens eingestiegen ist und sich unwiderruflich daran gebunden hat. Er steigt nicht aus. Er verlässt uns nicht. Er bleibt.
Damit sind wir nicht automatisch in beruhigtem Fahrwasser, auch unsere Ängste sind nicht wie weggeblasen, wahrhaftig nicht. Aber wir können Halt finden in ihm, der mit uns ist.
4. Nicht selten haben spätere Generationen das Bild vom Christus-Odysseus reduziert auf das reine Symbol des Kreuzes, gar auf das Holz des Schiffes, das mitten auf dem todbringenden Meer dahinschwimmt. Deshalb konnten sie das Kreuz besingen als „die Planke, die uns rettet, aus dem Schiffbruch dieser Welt.“
Liebe Schwestern und Brüder, lassen wir uns heute Nachmittag inspirieren und bestärken von dem Glaubenszeugnis, das aus diesen Bildern spricht. Wir können dies tun aus der Gewissheit, dass dieser Glaube nicht bloß Bild und Mythos ist, ausgedachte Erzählung. Er ist Realität, für die Jesus, der Gottessohn, mit seinem Leben bezahlt hat.
Amen.