Gottes Schweigen an Karfreitag ist „Zeichen für Gottes Wahrhaftigkeit, die den Schmerz nicht übergeht; ist Zeichen von Gottes Solidarität mit denen, die einsam und ohne Antwort leben oder sterben müssen. Gottes Schweigen des Karfreitags ist Zeichen für seine liebende Einfühlsamkeit, die Zeit lässt für Trauer und Klage“. Diese Deutung hat Bischof Dr. Stephan Ackermann in der Predigt an Karfreitag (2. April 2021) im Trierer Dom gegeben.
1. Wenn ich versuche, mir die Kreuzigungsszene plastisch vorzustellen, dann tut sich für mich eine eigentümliche Spannung auf: Einerseits ist das Bild der Kreuzigung Jesu sehr bewegt. Denken wir nur daran, wie der Kreuzweg in Jesusverfilmungen dargestellt wird: Die Volksmenge, der Lärm, das Gedränge durch die Stadt. Dann die Situation auf Golgotha: Die Hammerschläge, die Schreie der drei Männer, die auf die Kreuze genagelt werden; die Schaulustigen, die gaffen, und die Spötter, die sich die Mäuler verreißen und rufen: Du wolltest doch den Tempel niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen, dann rette doch jetzt wenigstens dich selbst! Steig vom Kreuz herab! Anderen hat er geholfen, sich selbst aber kann er nicht helfen. Der Messias, der König von Israel! (vgl. Mk 15,29-32/ Mt 27,42f). Und schließlich Jesus selbst, der laut am Kreuz ruft: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Und dann mit einem lauten Schrei verstirbt (vgl. Mk 15,34.37)
2. Im Gegensatz zu dem Lärm und den Schreien aus Schmerz und als Lästerung steht ein irritierendes Schweigen von dem, von dem man erwarten würde, dass er in dieser Situation spricht, ein Machtwort spricht: Gott selbst. War er nicht derjenige, der machtvoll seine Stimme hat ertönen lassen über Jesus bei der Taufe am Jordan (vgl. Mt 3,17) und auf dem Berg der Verklärung (Mt 17,5): Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Gefallen habe. Wenn Gott Jesus schon nicht aus dieser Situation heraus rettet und vom Kreuz weg in den Himmel aufnimmt, dann wäre doch wenigstens ein solches Wort des Trostes und der Bestätigung zu erwarten. Stattdessen ein schmerzhaftes, ein brutales Schweigen. Die Finsternis, die von der sechsten bis zur neunten Stunde über das Land kommt (Mt 27,45), ist nur ein sprechendes Symbol dafür, wie bleiern, wie verschlossen und stumm sich der Himmel in dieser Situation zeigt.
Die Theologen werden nicht falsch liegen, die davon ausgehen, dass größer als die körperlichen Qualen Jesu die Erfahrung der Verlassenheit vom Vater ist. Jesus hat den Überblick über seinen Auftrag verloren. Er, der sich in allen Situationen eng mit dem Vater verbunden wissen durfte (Joh 10,30), der daraus gelebt hat, dass der himmlische Vater ihn immer erhört (Joh 11,42), der hat den Boden unter den Füßen verloren, hängt im Niemandsland zwischen Himmel und Erde. Kein erklärendes Wort, weder für Jesus noch für die Umstehenden. Gott schweigt.
3. Von Ostern her dürfen wir sagen: Ja, Gott schweigt, aber er ist auf Golgotha nicht abwesend. Gott schweigt, aber er ist da. Aber warum schweigt er in dieser Situation, wenn er doch da ist? Ist das nicht eine besonders schlimme Form seelischer Grausamkeit gegenüber Jesus wie auch denjenigen, die auf ihn ihre Hoffnung gesetzt hatten?
Natürlich gibt es auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Aber vielleicht hilft uns folgende Gegenfrage: Wäre es wirklich ein Trost gewesen, wenn Gott in dieser Situation gesprochen hätte? Wäre es wirklich eine Hilfe gewesen, wenn es ein klärendes, deutendes Wort aus dem Himmel gegeben hätte? Müsste man nicht sogar sagen, dass es eine besondere Form von Zynismus oder Grausamkeit gewesen wäre, hätte Gott in dieser Situation gesprochen – etwa von einem höheren Plan, der hinter all dem steht …
„Ein Gott, der für einen großen Plan, wäre es auch der bestmögliche, Menschen opfern würde, ist sicherlich nicht der Gott, den uns Jesus Christus offenbart hat.“ (Papst Franziskus: Ansprache zum Jahresschluss 2020) Nein, Gott selbst wird aus Liebe zu uns Mensch und hält in Jesus und mit Jesus die Situation des Kreuzes aus. Ja, das Schweigen in dieser Situation ist überaus schmerzlich. Wir wissen aber auch, wie weh es tun kann, schnelle Erklärungen zu hören – und mögen sie noch so richtig sein. Wortreiche Erklärungen können in schwierigen Situationen sogar zusätzliche Verletzungen hervorrufen. Manchmal ist es besser zu schweigen und zu bleiben, weil man ehrlich zugeben muss, auch keine Antwort zu haben; weil man spürt, dass eine vermeintliche Antwort nicht hilft – jetzt nicht hilft.
Gerade in der Corona-Zeit mit all den Fragen, die sie aufwirft, und all den oft hilflosen Antworten, die ständig gegeben werden, wie überhaupt in der Geschwätzigkeit unserer Zeit, kann man das göttliche Schweigen des Karfreitags vielleicht einmal positiv verstehen: Dieses Schweigen ist weder das Zeichen von Gottes Abwesenheit, Gottes Desinteresse, noch ist dieses Schweigen ein Zeichen dafür, dass Gott auch keine Antwort weiß. Vielmehr ist dieses Schweigen Zeichen für Gottes Wahrhaftigkeit, die den Schmerz nicht übergeht; das Schweigen ist Zeichen von Gottes Solidarität mit denen, die einsam und ohne Antwort leben oder sterben müssen. Gottes Schweigen des Karfreitags ist Zeichen für seine liebende Einfühlsamkeit, die Zeit lässt für Trauer und Klage.
4. Liebe Schwestern und Brüder, am Karfreitag schauen wir auf das nackte Kreuz und auf den, der an diesem Kreuz hängt. Wir tun es ganz bewusst, um der Realität des Schmerzes und des Todes nicht auszuweichen. Aber das bloße Bild des Kruzifix zeigt nicht die ganze Wirklichkeit. Denn der, der auf Golgotha unter dem schweigenden Himmel stirbt, ist nicht allein. Der Gekreuzigte hängt mit seinen ausgebreiteten Armen nicht nur am Kreuz, sondern wird unsichtbar gehalten von den ausgebreiteten Armen des Vaters.
Die christliche Frömmigkeit hat diese Überzeugung dargestellt im Bild des sogenannten Gnadenstuhls: Wir kennen dieses Bild: Jesus hängt am Kreuz, aber dieses Kreuz steht nicht auf der Erde, sondern sein Querbalken wird gehalten von den Händen Gottes. Der Gekreuzigte sieht den Vater in seiner Todesverlassenheit nicht. Und doch ist er da, steht er hinter ihm, stärkt ihm den Rücken. Manchmal ist Gott sogar dargestellt wie eine Pietà, wie die Schmerzensmutter, die den toten Sohn im Schoß hält. Gott – väterlich und mütterlich zugleich. (Eine solche Darstellung findet sich übrigens hier in unserem Dom auf dem Altar in der Sakramentskapelle.)
Die Liturgie des Karfreitags will uns dazu ermutigen, es Jesus gleich zu tun. Das heißt: uns mit unserem Leben mehr und mehr loszulassen in das oft schweigende, aber immer gegenwärtige und uns umhüllende Geheimnis Gottes.
Amen.