Schriftlesungen: Jes 52,7-10 / Hebr 1,1-6 / Joh 1,1-18
Der Beginn des Johannesevangeliums, der uns jedes Jahr in der Messe am Weihnachtstag vorgetragen wird, unterscheidet sich deutlich von den anderen Evangelien. Während Matthäus und Lukas erzählen, wie das war mit der Geburt Jesu, mit ihren näheren Umständen, aber auch ihrer Vorgeschichte, setzt das vierte Evangelium theologisch-poetisch ein. Die konkreten Umstände um Geburt und Kindheit interessieren offensichtlich nicht. Vielmehr geht es Johannes darum, die Bedeutung Jesu zu beschreiben. Das vierte Evangelium führt uns sozusagen in das innere Geheimnis des Geschehens von Bethlehem, erklärt uns das, was man dem Kind im Stall von außen nicht ansieht und was man zum Zeitpunkt seiner Geburt auch noch nicht wirklich weiß, allenfalls erahnt und glaubt, wie es Maria und Josef und die Hirten auf das Wort der Engel hin tun.
Johannes begnügt sich in seinem Prolog auch nicht damit zu sagen, Jesus ist der Christus, der langersehnte Gesandte und Gesalbte Gottes, sondern er wählt eine ganze Palette von Titeln und Begriffen, um seinen Zuhörern klar zu machen, wer Jesus eigentlich ist. Die Titel können gar nicht groß genug sein: Jesus ist Licht, ist Leben, ist Wort. Und er ist nicht nur ein Licht von vielen, ist nicht nur ein Leben unter Milliarden anderer, ist nicht nur ein Wort in der Wortflut unserer Welt. Nein, Jesus von Nazaret ist das Licht, das Leben, das Wort schlechthin. Er ist mit einem Wort gesagt: die Wahrheit. Davon ist der Evangelist überzeugt.
Liebe Mitchristen, ich lade Sie ein, mit mir dieses Wort, »Wahrheit«, ein wenig tiefer zu bedenken. Denn es ist wohl das sperrigste unter all den Zuschreibungen, mit denen das Kind von Bethlehem im Weihnachtsevangelium vom Evangelisten Johannes bedacht wird. Gerade für uns Heutige. Gerne lassen wir uns von jemandem Licht geben, lassen wir unser Leben bereichern, aber mit der Wahrheit tun wir uns schwer und zwar in mehrfacher Hinsicht:
Sicher, es gibt nicht wenige Menschen, die darauf hoffen, dass gerade das Weihnachtsfest sie für ein paar Stunden oder Tage aus den anstrengenden Realitäten des Alltags entführt und wenigstens für eine kurze Weile die unschönen Seiten des Lebens mit seinem Glanz übertrahlt. Für ein paar Tage abschalten, bevor das harte Leben uns wieder einholt ... Wie gut ist es tatsächlich, zu erleben, wenn sich in den weihnachtlichen Tagen z. B. durch eine bestimmte Atmosphäre, durch eine Musik oder einen schön geschmückten Raum eine Wirklichkeit öffnet, die sich wohltuend unterscheidet von der nüchternen Betriebsamkeit des Alltags. Die Sehnsucht nach einer solchen Unterbrechung ist nicht nur legitim, sie zeichnet uns geradezu als Menschen aus.
Andererseits wissen wir genau, dass der Glanz der Weihnachtsbotschaft die eigentlichen Realitäten von Bethlehem weder überstrahlen kann und noch überstrahlen will: Mögen Engel in himmlischem Glanz auf den Feldern von Bethlehem singen und Könige dem Kind kostbare Geschenke bringen, trotz allem bleibt da die Situation der Fremde, die fehlende Hilfe in einer Lage besonderer Hilfebedürftigkeit, die drohende Verfolgung und Flucht ...
Dabei ist das, was sich in Bethlehem für das Kind und seine Eltern abzeichnet, nur ein schwaches Vorzeichen dafür, wie das Leben Jesu enden wird: grausam, schmutzig und blutig, in nackter Hilflosigkeit. So viel Staunenerregendes es in diesem Leben auch geben wird, setzt sich am Ende nicht wieder die bittere Erkenntnis durch, dass das Leben des Menschen, auch das Leben Jesu, letztlich doch nichts wert ist? Am Kreuz bricht sich alle Rede von »Glanz« und »Herrlichkeit« die Zähne aus.
Wer so denkt, würde Recht behalten, wenn Einsamkeit, Verrat und Tod wirklich die letzte und endgültige Wahrheit über den Menschen wären. Wir müssen aber noch einen Schritt weiter gehen, eine Schicht tiefer hinabsteigen. Freilich, allzu oft liegt unter einer glänzenden Oberfläche eine trübe Wahrheit verborgen. Doch auch sie ist nicht unbedingt und in jedem Fall schon die letzte Wahrheit. Unter ihr kann es noch eine andere Tiefenschicht geben. Ich will sie die »weihnachtliche« Schicht nennen. Sie bezeugt, dass Gott nach wie vor der Überzeugung ist, dass das Werk seiner Hände gut, ja sehr gut ist und dass er alles daran setzt, die Entstellungen, mit denen wir die Schöpfung überziehen, zu entfernen, damit ihre urprüngliche Schönheit wieder zum Vorschein kommt.
Worin besteht aber diese Schönheit? Sie besteht in nichts anderem als der Gewissheit, dass Gott nicht von dieser Erde lässt, dass er, der Schöpfer, sich ein für allemal mit ihr verbunden hat, indem er selbst Mensch geworden ist in Jesus Christus. Das ist die tiefste Wahrheit über Mensch und Welt. Diese Wahrheit heißt Liebe. Davon singt jedes Jahr aufs Neue das Weihnachtsfest.
Noch einmal: Nicht Enttäuschung, nicht die Aufdeckung aller Fehler, nicht Krankheit und Dunkelheit bilden die letzte Wahrheit des Lebens, auch wenn all das leider zum Leben des Menschen gehört. Die letzte Wahrheit aber ist die Liebe, die Gott zu uns hat. Sie überwindet alles Dunkel.
Liebe Schwestern und Brüder! Uns allen stehen noch lebendig die Bilder von der Rettung der 33 chilenischen Bergleute vor Augen, die im Oktober auf spektakuläre Weise aus der Kupfermine San José geborgen wurden. Ursprünglich dachte man, die Rettung werde erst zu Weihnachten möglich sein. Eine grausame Vorstellung: Von August bis Dezember, mehr als vier Monate eingekerkert in Dunkelheit unter der Erde. Gott sei Dank konnten die Männer bereits nach 69 Tagen wieder das Licht der Welt erblicken.
Es hat mich berührt, wie offen diese handfesten Männer nach ihrer Rettung davon sprachen, dass ihnen neben ihrer bergmännischen Erfahrung die Liebe zu ihren Familien, aber auch und gerade der christliche Glaube geholfen hat, die Zeit ihrer Gefangenschaft zu bestehen. Sogar Gottesdienste wurden unter Tage abgehalten. Für mich ein spechendes Zeichen dafür, dass es für die Männer, die in über 600 Metern Tiefe begraben waren, ganz offensichtlich eine Schicht der Wirklichkeit - das heißt eine Wahrheit - gab, die viel tiefer lag als alles Erschrecken über das Unglück und aller Zweifel, ob sie gerettet würden. Diese Tiefenschicht war bei dem Unglück nicht verschüttet worden. Sie gab ihnen das Licht der Hoffnung. Umso schöner, dass sich die Hoffnung durch eine so glückliche Rettung bestätigt hat. Liebe Mitchristen, mit diesem Bild der Hoffnung verbinde ich meinen Wunsch (ich tue dies auch im Namen des ganzen Domkapitels), dass das Weihnachtsfest Ihnen dazu hilft, auf neue Weise mit der alles tragenden Schicht unseres Lebens in Berührung zu kommen, die Gott selbst ist. Glauben wir der Botschaft des Evangelisten Johannes. Er war davon überzeugt, dass die eigentliche Wahrheit unseres Lebens nicht Unglück, sondern Gnade ist und deshalb herrlich. Amen.