Liebe Schwestern und Brüder!
Wir werden sie in den kommenden Wochen häufiger sehen, die kleine Balkissa. Ich meine das afrikanische Mädchen, das uns vom Plakat der diesjährigen Misereor-Aktion anschaut; das Mädchen, das die Sonnenbrille verkehrt herum auf der Nase trägt. Vor kurzem konnten wir ihr mit einer Gruppe in ihrem Heimatdorf begegnen. Sie war schnell wiederzuerkennen, denn sie hatte ihre Brille an. Offensichtlich ihr ganzer Stolz. Und wir merkten auch, dass die umgekehrte Brille auf ihrer Nase kein Versehen, kein Zufall war. Denn immer wieder wechselte sie die Brille, trug sie selbstbewusst mal so, mal anders herum.
Die Verantwortlichen von Misereor haben das Spiel des Mädchens aufgegriffen als Symbol. Sie laden uns ein, es als Perspektivwechsel zu verstehen. D. h.: Nicht mit den immer gleichen Mustern auf diese Welt und die Menschen zu schauen, sondern den Mut zu haben, mit einem neuen, vielleicht ungewohnten Blick auf die Welt zu schauen.
In besonderer Weise gilt das auch für die Länder, in denen Misereor engagiert ist. In diesem Jahr richtet sich der Blick auf Burkina-Faso in Westafrika, ein Land am Rand der Sahelzone. Es gehört zu den ärmsten Ländern der Erde. Misereor möchte nicht, dass wir das Land und den afrikanischen Kontinent insgesamt nur oder vor allem unter der Perspektive der Schwierigkeiten und Probleme, die es dort gibt, anschauen, sondern mit der Brille der Hoffnung und der positiven Entwicklung. Und das ist berechtigt, nicht nur wegen der vielen jungen Leute, die in Burkina leben (der Altersdurchschnitt der Bevölkerung liegt bei unter 25 Jahren!). Das liegt auch an den kreativen Ideen und Initiativen, die es dort gibt.
Mithilfe der einheimischen Partner unterstützt Misereor einige davon, ob das die Minimolkerei ist, die Frauen in ihrem Dorf gegründet haben und die ihnen erlaubt, Milch in größeren Mengen zu produzieren, sie aufzubewahren und weiterzuverarbeiten, um dadurch einen besseren Preis zu erzielen. Oder ob das die Bäuerinnen und Bauern sind, die mithilfe von traditionellen und modernen Methoden natürliche Mittel gegen Schädlinge und Krankheiten entwickeln und mit staatlicher Anerkennung preisgünstig verkaufen. Gute Ideen!
Deshalb das Leitwort: „Die Welt ist voller guter Ideen. Lass sie wachsen.“ Aber klingt das für eine Fastenaktion, so mag sich mancher vielleicht fragen, nicht zu harmlos? Müsste eine Fastenaktion uns nicht mehr ins Gewissen reden, uns mehr aufrütteln, ja uns regelrecht erschüttern anstatt uns mit einem kleinen Mädchen ein Schmunzeln zu entlocken? Ich glaube nicht. Wer auf die positiven Ansätze, die guten Ideen und Energien, die Menschen haben, schaut, ist nicht automatisch blauäugig. Es geht ja nicht darum, Ungerechtigkeit und Leid zu übersehen. Nein, es geht darum, die Kräfte des Positiven, des Nach-vorne-Gerichteten, der Zukunft zu bestärken und dadurch weitere Energien freizusetzen.
Für mich verbindet sich diese Sichtweise gut mit dem Sinn der Fastenzeit. Man könnte sogar sagen, sie entspricht der Weise, wie Gott mit uns Menschen umgeht: Er verabscheut das Unrecht und die Sünde, aber er liebt den Sünder. Gott weiß um unsere Wankelmütigkeit, unser menschliches Versagen, unsere Neigung zum Bösen, und doch gibt er uns nicht auf, traut er uns Veränderung zum Positiven zu. Gott blickt nicht nur auf unsere Probleme, unsere Fehler und Sünden. Das hat Jesus in seinen Begegnungen mit den Menschen immer wieder gezeigt.
Ich staune immer wieder aufs Neue, wie groß Gott von uns denkt. Wir werden es in den Wochen der Fastenzeit in den Gottesdiensten und Gebeten immer wieder hören: Von Veränderung und Erneuerung ist die Rede. Vielleicht haben wir selbst den Glauben daran im Stillen schon aufgegeben, weil wir uns kennen, weil wir schon so oft in die unguten, alten Muster zurückgefallen sind – Gott aber traut uns Erneuerung zu. Und er verspricht uns zugleich Hilfe. Gott will ja nicht Recht haben, er will Recht schaffen! Gott will nicht den Tod des Sünders, sondern er will, dass der Sünder umkehrt und lebt (vgl. Ez 33,11). Wirklich umkehren können wir aber nur mit Gottes Hilfe, d. h. aus der Gewissheit heraus, dass er uns liebt, uns nicht aufgibt.
Von hierher verstehen wir auch die Lesung aus dem Buch Genesis besser. Sie ist uns vertraut, und doch müssen wir uns beim aufmerksamen Hinhören wundern: Wieso hat Gott etwas dagegen, dass Adam und Eva die Gabe der Unterscheidung, der Erkenntnis von Gut und Böse haben möchten? Warum soll ihnen ausgerechnet das vorenthalten werden? Müsste der Schöpfer sich nicht darüber freuen, dass die beiden nach dieser Fähigkeit verlangen?
Wie viel besser sähe unserer Welt aus, wenn wir Menschen diese Fähigkeit konsequenter anwenden würden, wenn nicht das Böse gut und das Gute böse genannt würde! Wir erleben tagtäglich, mit welchen Tricks versucht wird, die Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen wahr und falsch zu verschieben, Menschen in ihrem Urteilsvermögen zu verwirren, so dass sich am Ende keiner mehr auskennt. Wie oft wünschen wir uns, klarer zu sehen. Sollte Gott etwa dagegen sein?
Andererseits wissen wir sehr wohl, dass die Erkenntnis alleine nicht ausreicht. Ich will nur zwei Beispiele nennen: Wir wissen sehr genau, dass unsere Weise zu konsumieren und Ressourcen dieser Erde zu verbrauchen, zulasten der Armen geht, und doch tun wir uns sehr schwer, unsere Lebensweise umzustellen. Dabei mangelt es nicht an Erkenntnis … Und ebenso wissen wir: Solange so vielen Menschen wie bisher reelle Lebenschancen versagt bleiben, bleiben auch Frieden und Sicherheit international gefährdet, ja sie werden noch zerbrechlicher. Da helfen auf Dauer keine Zäune und Mauern, so hoch und so lang sie auch sein mögen. Globale Sicherheit wächst nur durch mehr globale Solidarität! Auch diese Erkenntnis ist jedem klar. Gehandelt wird aber viel zu oft anders, weil die Kraft und der Wille zum Guten fehlen.
Liebe Schwestern und Brüder! Ich glaube nicht, dass Gott dem Menschen die Erkenntnis von Gut und Böse auf Dauer vorenthalten wollte, weil er sie ihm nicht gegönnt hätte. Ich glaube vielmehr, dass er den Menschen bereit machen wollte für diese Erkenntnis. Denn sie zeigt uns die Gefahren und Abgründe unseres Menschseins. Jesus hat sie bei seinen Versuchungen gesehen. Erkenntnis allein entmutigt, kann zynisch machen, kann Angst und Abwehr verstärken. Was wir brauchen, ist die Kraft zum Guten. In Jesus ist sie da. Mit ihm schenkt Gott sie auch uns. Wenn wir sie – gerade auch in den Wochen der Fastenzeit – in uns wachsen lassen, dann gewinnen wir die Kraft, uns mehr zum Guten hin zu verändern und damit die Welt, zusammen mit unseren Schwestern und Brüdern, wo immer sie leben. Amen.