Liebe Schwestern und Brüder!
Wir leben in einer Zeit, die Kurznachrichten liebt: In wenigen Zeichen muss das Entscheidende mitgeteilt werden. Wer gehört werden will, muss schnell auf den Punkt kommen, sonst hat er kaum eine Chance wahrgenommen zu werden. Angesichts der Fülle an Informationen können wir uns im Alltag in der Regel keine weitschweifigen Erklärungen leisten. Wer dagegen an einer Osternacht teilnimmt, muss Zeit mitbringen und auch die Bereitschaft, eine Menge Texte anzuhören. Fünf Viertelstunden sind vergangen, bis wir die für diese Nacht entscheidende Botschaft von der Auferstehung Jesu gehört haben. Wenn Sie nicht zufällig in diesen Gottesdienst hineingeraten sind oder zum ersten Mal an einer Osternachtsfeier teilnehmen, dann wussten Sie, was Sie erwartet. Vielleicht sind Sie gerade deshalb gekommen. Denn die Osternacht ist ein Gottesdienst, der entschleunigt, der vor allem mithilfe der Lesungen zum Zuhören und zum persönlichen Nachdenken einlädt.
Die Osternacht ist ein Gottesdienst, der weiß und uns daran erinnert, dass Leben und Glauben Zeit brauchen; dass wir Zeit brauchen, unser Leben zu verstehen, und dass wir mehr Erfahrungen brauchen als unsere eigenen … Recht besehen versammeln die Lesungen der Osternacht die großen Grundthemen unseres Lebens:
angefangen von der Schöpfung der Welt aus dem Nichts, der Erschaffung des Menschen nach Gottes Abbild, als ein Wesen, das von Anfang an auf Beziehung, ja auf Liebe angelegt und dem die Schöpfung anvertraut ist.
Die Lesung über die Erprobung Abrahams verstehen wir christlich so, dass Gott in der Hingabe seines Sohnes am Kreuz das gibt, was er Abraham nicht in letzter Konsequenz abfordert. Aber die Lesung erinnert uns auch daran, dass Gott trotz aller Offenbarung für uns ein unbegreifliches Geheimnis bleibt, manchmal auch verstörend und dunkel, gerade in Situationen existenzieller Prüfung, wie sie Abraham durchlebt hat.
Und dann ist da die Lesung aus dem Buch Exodus, die in der Osternacht niemals fehlen darf und die uns ganz besonders mit der Glaubenstradition Israels verbindet: Sie beschreibt die dramatische Errettung der Israeliten aus der Hand der Ägypter, der Weg aus der Unterdrückung in die Freiheit. Zugleich ein Ursehnsuchtsthema der Menschheit: Freiheit gegen Sklaverei, in welcher Form auch immer.
Die Bibel ist nicht vorstellbar ohne die große Tradition der Propheten, die dem Volk ins Gewissen reden, die Schuld und Versagen offen ansprechen, die vor allem aber Hoffnung geben auf ein besseres Morgen. Die biblischen Propheten haben Visionen beschrieben, die bis heute nichts von ihrer faszinierenden Kraft verloren haben und die mit ihrer bildreichen Sprache immer neu die Hoffnung wecken auf ein Leben ohne Not, in Gerechtigkeit und Versöhnung.
Am Schluss steht der Bericht über den Gang der Frauen und Jünger zum Grab und damit das Thema Tod, aber mit ihm auch die Überraschung: Das ganz und gar Unerwartete: Das Grab ist leer. Nichts ist so sicher wie der Tod, so sagen wir, aber mit Ostern soll er nicht mehr das letzte Wort behalten. Kein Wunder, dass die Apostel dies zunächst für leeres „Geschwätz“ halten. Gerade in den Ostererzählungen wird deutlich, wie ehrlich die Hl. Schrift ist: Zweifel werden nicht unterschlagen. Hier wird nicht im Nachhinein geglättet nach dem Motto: „Klar, Jesus hatte uns ja mehrmals prophezeit, dass er am dritten Tag auferstehen werde, deshalb waren wir nicht sonderlich überrascht, sondern hatten das alles so erwartet …“ Nichts von dem. Kein Hofberichterstattung. Das macht die Ostererzählungen und die Osternacht insgesamt so sympathisch. Die Erzählungen lassen Raum auch für unsere Fragen.
Liebe Schwestern und Brüder, die Osternacht als eine Nacht des Erzählens fällt heraus aus unseren normalen Kommunikationsgewohnheiten, die so sehr auf Kürze und Prägnanz getrimmt sind, so habe ich am Anfang gesagt. Aber das stimmt nur zum Teil. Denn gerade die Osternacht kennt auch das andere: die Kurzformeln des Glaubens, anders gesagt: das Bekenntnis. Seit ältester Zeit ist die Osternacht eine Nacht des Erzählens und des Bekenntnisses. Bekennen ist nicht Erzählen. Im Unterschied zur Erzählung bringt das Bekenntnis auf den Punkt, ist geronnene Erfahrung, ist eine Kurzformel, d. h. es sagt in Kürze, worauf es im Glauben ankommt und macht den, der sich bekennt, erkennbar und identifizierbar.
Die kürzeste österliche Formel heißt: Der Herr ist auferstanden! – Er ist wahrhaft auferstanden! Wir haben diesen Ruf im dunklen Dom eben bereits gehört. Es ist der Ruf und das Bekenntnis, mit dem sich bis heute griechisch-orthodoxe Christen in der Osterzeit begrüßen und damit zugleich als Glaubende zu erkennen geben. Die Osternacht ist eine Nacht des Bekenntnisses, weil in ihr seit frühester Zeit Menschen die Taufe empfangen. So wird es in dieser Nacht auch wieder an unzähligen Orten sein, und wir durften es ja auch schon häufiger hier im Dom erleben. Es gehört zur Taufe, dass sich die Taufbewerber vor der eigentlichen Taufe zu Gott und zur Gemeinschaft der Kirche bekennen. Sie sollen sagen, was sie damit meinen, wenn sie von Gott sprechen. Aber nicht nur die Täuflinge, sondern auch diejenigen, die schon getauft sind, sollen diese Feier zum Anlass nehmen, um ihr Bekenntnis zu erneuern und zu bekräftigen, um sich im Bekenntnis als Christen zu erkennen zu geben so wie wir es gleich auch tun werden.
Wir brauchen im Leben und im Glauben beides: Wir brauchen das Bekenntnis, an dem wir uns einander erkennen, und wir brauchen die Erzählungen, die Geschichten, denen wir uns mit unseren Gedanken, Gefühlen und persönlichen Erfahrungen überlassen dürfen. Das Erzählen allein wäre zu wenig: Es steht in der Gefahr, unverbindlich zu bleiben. Aber auch die kurzen Bekenntnisformeln wären allein zu wenig: Denn sie stehen in der Gefahr, der Vielfalt und der Komplexität des Lebens nicht gerecht zu werden. Die Osternacht enthält beides – das Erzählen und das Bekennen – und ist damit so etwas wie eine kleine Schule des Glaubens. Lassen wir uns diese Schule gefallen, in der der wahre Lehrmeister der Auferstandene selbst ist. Und bitten wir ihn, dass er uns wie den Emmausjüngern die Augen öffnet für seine lebendige Gegenwart, damit auch wir mit unseren Lebensgeschichten hineinwachsen in das Bekenntnis: Der Herr ist auferstanden! – Er ist wahrhaft auferstanden! Halleluja.