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Predigt von Bischof Stephan Ackermann in der Osternacht-Feier am 26. März 2016 im Trierer Dom

Die Liebe lebt

Vor kurzem habe ich die Fazenda da Esperança in unserem Bistum besucht. Fazenda da Esperança ist eine spirituelle Gemeinschaft, die ihren Ursprung in Brasilien hat. Weltweit engagiert sie sich für drogenabhängige junge Leute, um sie aus ihrer Abhängigkeit herauszuführen. Bei meinem Treffen vor Ort war auch der Gründer der Gemeinschaft, ein deutscher Franziskaner, dabei. Schnell kam unser Gespräch auf sehr existenzielle Fragen, so auch die Frage, was dem Leben Sinn und Perspektive gibt. Für den Franziskaner war die Antwort sehr einfach. Er sagte: „Der Sinn des Lebens besteht darin, die Liebe zu leben. Und genau darum geht es ja auch in unserem Glauben: Die Liebe zu leben.“ In der Gesprächsrunde saß ebenfalls ein gestandener Politiker. Ich spürte, dass ihn diese Art des Gesprächs unruhig machte, und dann brach es spontan aus ihm heraus: „Die Liebe leben … – Wenn ich in meinem Heimatdorf, in dem eine ganze Reihe gläubiger Menschen wohnen, so etwas sagen würde, dann würden die Leute mich schief angucken.“

Liebe leben – bis zu welcher Grenze?

Der Ordensmann ließ sich von diesem Einwand nicht beeindrucken, aber ich konnte verstehen, warum der Politiker so reagierte. Denn diese unvermittelte Art über den Glauben, das Leben und die Liebe zu sprechen, klingt für uns befremdlich, scheint abgehoben und romantisch zugleich. Wem wollten wir sagen: „Lebe nur die Liebe, und du wirst das Glück deines Lebens finden!“ So etwas hält man für einen kitschigen Liedtext. Wir tun uns in der Regel schwer so zu sprechen und auch so zu denken. Denn wir sehen ja allzu oft, wie wenig das funktioniert – im Kleinen und im Großen. Die Liebe leben – „Will man damit Terroristen Einhalt gebieten? Wo kommen wir hin, wenn wir uns nicht schützen als Individuen und als Gesellschaft, wenn wir keine klaren Grenzen ziehen?! Hat die zurückliegende Woche dazu nicht genügend Beispiele geliefert?“ Und die großen öffentlichen Diskussionen der vergangenen Monate kreisen letztlich doch auch um diese Frage: Wie weit reicht die Nächstenliebe und wo kommt sie an ihre Grenzen?

Liebe – mit klarem Maß?

Natürlich müssen wir Christen daran denken, dass Jesus seinen Jüngern das Gebot der Liebe gegeben hat, indem er gesagt hat: „Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben!“ (Joh 13,34) Aber hat er dies nicht vor seiner eigenen Passion gesagt? Er hat am eigenen Leib die Konsequenzen spüren müssen nicht nur durch seine Feinde, sondern sogar durch seine Freunde, die ihn verraten und verleugnen. Hat Jesus nicht auch gesagt: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ (Mt 22,39)? Also hat die Liebe zum anderen doch ein klares Maß: Das Maß meiner Liebe zu mir selbst. Auch das ist richtig. Aber wenn wir im Evangelium weiter schauen, dann stoßen wir auf die Worte: „Wenn Dir einer das Hemd wegnimmt, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin“ (Mt 5,39f), was ja nichts anderes heißt als: „Begegne dem anderen mit Liebe. Gib mehr als erwartbar ist.“ „Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, was könnt ihr dann schon erwarten …?“ (Mt 5,46) Tja, liebe Schwestern und Brüder, vielleicht fragen Sie: Wer soll sich da auskennen? Wie soll man das verstehen? Jesus scheint in seiner Lehre selbst nicht stringent gewesen zu sein.

Was die Welt auf Dauer verändert

Ich glaube, dass diese Art Jesu zu reden, zeigt, dass er Realist war, kein naiver Sänger der Liebe. Er hat um die Realitäten dieser Welt gewusst, auch um die Grenzen unserer Fähigkeit zu lieben. Und er hat das Böse nicht verharmlost oder übersehen. Er hat mit den Dämonen nicht diskutiert, sondern ist ihnen mit Macht entgegengetreten (vgl. z. B. Mk 1,25; 9,25).

Und doch hat Jesus gewusst, dass die Ausübung von Macht, die Abgrenzung und die Gewalt die Probleme dieser Welt nicht lösen. Überwachungen, Kontrollen, Razzien, so unumgänglich sie für den Moment sein mögen, sie werden die Welt auf Dauer nicht wirklich zum Guten verändern. Die Liebe leben - Mögen wir diesem Prinzip gegenüber skeptisch sein, so wissen wir doch, dass die Welt sich nicht durchgreifend verändert, wenn Gewalt mit Gewalt beantwortet wird. Die Anwendung von Gewalt kann der Gewalt und dem Bösen allenfalls eine Schranke setzen, aber nicht mehr. Aber sie wird sie nicht zum Guten verändern. Denn in der Regel führt sie zur Verhärtung. Oft genug entwickelt Gewalt eine Eigendynamik und steigert sich: Die Parteien schaukeln sich gegenseitig hoch. Eine Spirale setzt sich in Gang, die nur sehr schwer wieder zu unterbrechen ist …

Bei all dem, was es in dieser Welt an Unverständnis, an Verhärtung, an Lieblosigkeit, Gewalt, Hass und Verachtung gibt, braucht es ein Übermaß an Gesprächsbereitschaft, an Respekt, an Vertrauen, an Versöhnungsbereitschaft – mit einem Wort: an Liebe –, um die Welt auf Dauer zu verändern. Wenn dem Übermaß des Bösen nicht ein größeres Maß an Güte und Liebe entgegengesetzt wird, wird sich die Waagschale nicht zum Guten hin senken. Wer diese Überzeugung teilt, ist kein Utopist, sondern ein Realist!

Am Ende überlebt: die Liebe

Der Preis für diese Überzeugung kann freilich hoch sein, weil Liebe oft nicht mit Liebe beantwortet wird, weil Vertrauen missbraucht, Güte ausgenutzt wird ... Leicht kann es sein, dass derjenige, der dem Weg der Liebe folgt, menschlich gesehen unterliegt. Bei Jesus war ja genau das der Fall. Zeigt nicht sein Leben, dass er auf die Liebe gesetzt und alles verloren hat? Ja, so sah es am Karfreitag mit dem Tod Jesu aus. Aber gerade die Osterbotschaft sagt uns, dass der Karfreitag und das Kreuz nicht das letzte Wort über Jesus und seine Botschaft der Liebe sind.

Ostern sagt: Am Ende hat die Liebe Recht bekommen von Gott selbst, dem Schöpfer, dem Allmächtigen. Die Liebe hat überlebt. Sie konnte nicht ausgelöscht werden. Sie ist nicht gestorben. Der Beweis dafür ist die Lebendigkeit des Auferstandenen, der nicht mehr stirbt, wie Paulus sagt (Röm 6,9).

Langer Atem

Gewiss, um den Weg Jesu zu gehen, braucht es langen Atem. Der Weg des Christseins ist anspruchsvoll. Schnelle Erfolge sind keine garantiert. Wir wissen im Gegenteil: Es wird unweigerlich Enttäuschungen geben und Rückschläge, auch bei uns selbst, weil eben der alte Mensch, von dem Paulus spricht, in uns immer noch nicht ganz abgestorben ist und die alte Schlange in uns immer noch das Gift des Misstrauens gegen den Weg Jesu versprüht. Aber seit Ostern brauchen wir den Weg der Liebe ja nicht allein aus eigener Kraft zu gehen: Jesus, der Auferstandene, d. h. der Lebendige, geht den Weg mit und lässt uns teilnehmen an seiner österlichen Lebenskraft. – Doch woran erkenne ich das? Wie erfahre ich das?

Zum Beispiel dadurch, dass ich auf Jesu Wort hin

  • den ersten Schritt auf einen anderen hin tue, und spüre: Es geht.
  • großzügiger bin, als von mir zu erwarten ist, und ich spüre: Es geht, und ich bin gar nicht enttäuscht, dass mir die anderen nicht dankbarer sind.
  • mehr Vertrauen als gewöhnlich investiere, und spüre: Es geht.
  • Oder: Ich spüre, dass es die Botschaft Jesu ist, die mich vor Enttäuschung und Zynismus bewahrt, und ich bin selbst davon überrascht.

Die Gnade von Gemeinschaft

Liebe Schwestern und Brüder, in der Sprache des Glaubens nennen wir das die Erfahrung der Gnade. Sie ist nicht Ergebnis unserer eigenen Leistung, sondern Geschenk Gottes. Durch sie spüren wir die Lebendigkeit des Auferstandenen. Diese Gnade wird uns im Sakrament der Taufe geschenkt. In ihr verspricht uns Jesus, dass er sein Leben und seine Liebe mit uns teilt. Aber – das sage ich vor allem den Täuflingen, die unter uns sind – das ist noch nicht alles: Jesus schenkt uns nicht nur seine persönliche Nähe, sondern er schenkt uns in der Taufe auch die Gemeinschaft der Kirche. Ohne sie, das heißt ohne Schwestern und Brüder an unserer Seite könnten wir den Weg des Christseins trotz bestem Willen nicht gehen. Aber in und mit der Kirche können wir daran arbeiten, dass die Lebensweise Jesu Kreise zieht, dass mitten in einer Welt von Konflikten, Egoismen und Gewalt Inseln des Respekts, der Großzügigkeit und des Miteinanders entstehen, nicht Inseln, die sich abschotten, sondern offen und einladend sind und sich miteinander verbinden.

Die Liebe leben, so hatte der Ordensmann den Sinn der ganzen menschlichen Existenz auf den Punkt gebracht, und dem Politiker war dabei mulmig geworden. Im Licht von Ostern betrachtet, ist der Satz aber weder weltfremd noch naiv, sondern die einzig wahre Alternative. Amen, halleluja.

Weiteres:

Osternacht-Feier 2016

in der Predigt