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Silvester-Predigt 2014 im Trierer Dom

Perspektiven-Wechsel: Evangelisierung konstituiert Kirche

Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben!

Die letzten Stunden des alten Jahres laden immer in besonderer Weise dazu ein, ein wenig innezuhalten und zurückzublicken, um sich über den eigenen Standort klarer zu werden. Der Rückblick – vor allem der gesellschaftliche und soziale – ist aber nicht den letzten Stunden des Jahres vorbehalten. Schon längst vor Weihnachten wurde wieder damit begonnen, das zu Ende gehende Jahr 2014 zu bilanzieren. Man tut dies für den Bereich der nationalen und internationalen Politik und der Wirtschaft. Man versucht, gesellschaftliche Entwicklungen zu bewerten, und selbstverständlich gibt es immer auch Kommentierungen zur Lage der Kirchen.

Wenn man diesen folgt, dann schließt das Jahr 2014 wie schon die vorhergehenden Jahre mit einer Negativbilanz ab. Wir kennen die entscheidenden Faktoren, die zu dieser Diagnose führen:

  • Der nicht nachlassende Rückgang der Kirchenbindung, der sich in den nach wie vor hohen Zahlen der Kirchenaustritte besonders schmerzlich manifestiert;
  • die weiter schwindende Zustimmung der Gläubigen zu wesentlichen Inhalten der kirchlichen Glaubenslehre;
  • der immer stärker spürbar werdende Priestermangel;
  • der anhaltende Bedeutungsverlust der Kirchen in der gesamtgesellschaftlichen Situation …

Gerade Letzteres führt dazu, dass regelmäßig das besondere Verhältnis zwischen Kirche und Staat in Deutschland kritisch hinterfragt wird. Das prominenteste Beispiel dafür war in diesem Jahr sicher die Arbeitsrechtsklage vor dem Bundesverfassungsgericht. Mit seinem Urteil hat das Gericht die Kirchen in ihrem Recht zur Selbstbestimmung gestärkt. Kritische Stimmen haben jedoch schon darauf hingewiesen, dass auch ein solches Urteil keinen Ewigkeitswert hat.

Nach der einhelligen Meinung der Kommentatoren stünde es um die katholische Kirche in Deutschland noch dramatischer, wenn nicht Papst Franziskus eine solch gute Presse und ein solch hohes moralisches Ansehen in der ganzen Weltgemeinschaft genießen würde.

Mutig auf die Schwierigkeiten schauen – und den Blick weiten

Liebe Schwestern und Brüder, bei dieser kirchlichen Negativbilanz in Folge gäbe es genügend Gründe deprimiert zu sein und dem kommenden Jahr mit Zagen entgegenzusehen. Doch lassen wir uns nicht vorschnell entmutigen! Wenn ich das sage, möchte ich die bestehenden Schwierigkeiten nicht verharmlosen. Ich will auch nicht einer falschen Beruhigung das Wort reden. Aber als gläubigen Menschen und wachen Zeitgenossen ist uns aufgetragen, genau hinzuschauen, indem wir zugleich unseren Blick weiten.

Was ich meine, möchte ich an einem Blick in die Geschichte illustrieren: In vielfältiger Weise haben wir in 2014 des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren gedacht. In den letzten Wochen wurde an den sogenannten Weihnachtsfrieden von 1914 erinnert. Ein merkwürdiges und berührendes Ereignis zugleich: Entlang der 800 km langen Frontlinie zwischen dem Ärmelkanal und dem französisch-schweizerischen Grenzgebiet schwante den Soldaten schon wenige Monate nach Beginn des Krieges, dass eine schnelle Rückkehr zu ihren Familien immer unwahrscheinlicher würde.
Besonders in Flandern zeichnete sich bereits ein blutiger Stellungskrieg ab. An manchen Stellen lagen britische und deutsche Truppen kaum mehr als fünfzig Meter auseinander. Am Heiligabend sei das Unerwartete geschehen: Ganz spontan habe man sich durch Zurufe mit dem Gegner verständigt, sei aus den Schützengräben herausgestiegen, habe einen Waffenstillstand gemacht und Weihnachtswünsche ausgetauscht. Gerade auch die Weihnachtslieder wie „O Du fröhliche“ und „Stille Nacht, heilige Nacht“ hätten die Feinde zusammengeführt. So habe sich mitten im Krieg für eine kurze Zeit ein Raum der Menschlichkeit und Solidarität aufgetan.

Liebe Schwestern und Brüder! Man kann in dem, was da vor 100 Jahren geschah, so etwas sehen wie ein kleines Wunder und einen Beweis für die Kraft der weihnachtlichen Friedensbotschaft über alle Grenzen und Feindschaften hinweg. Man kann aber über diese Kriegsepisode auch ganz besonders erschüttert sein, gerade weil sie nur eine Episode geblieben ist. Sie deckt das schier Unbegreifliche auf: dass sich hier und erst recht in den vier Jahren, die noch folgen sollten, Männer in unerbittlicher Feindschaft gegenüberstanden, die den Glauben an den Gott teilten, der ein wehrloses Kind geworden ist und der Welt den Weg der gewaltlosen Liebe gewiesen hat. Französische Katholiken haben ihren deutschen Glaubensbrüdern und -schwestern damals übrigens die konfessionell zugespitzte Frage gestellt: „Wie könnt Ihr deutsche Katholiken auf Befehl eines evangelischen Kaisers auf uns durch und durch katholische Franzosen schießen?“

Christ-Sein durch und durch – oder hauchdünne Schale?

Was sagen diese Vorgänge über den damaligen Stand des Christentums und der Kirchen aus? Die allermeisten derjenigen, die in den Krieg verwickelt waren, waren schließlich Christen. Doch offensichtlich waren sie es nicht „durch und durch“, war ihr Glaube nicht mächtig genug, die Nationalismen zu zähmen, wirksame Gespräche zwischen den Konfliktparteien zu ermöglichen und Pläne brutaler Gewalt zu verhindern. Und all das unter Glaubensgeschwistern! Sollte das Christentum damals nicht mehr gewesen sein als eine hauchdünne Schale von Zivilisation, die nicht die Stärke hatte, den darunterliegenden machthungrigen und aggressiven Kern von Individuen und Gemeinschaften zurückzuhalten? Und das trotz annähernd 2.000 Jahren christlicher Glaubens- und Kulturgeschichte! Sollte denn das Taufwasser durch die vielen Generationen Europas hindurch nicht tiefer in das Bewusstsein und in die Herzen der Menschen eingedrungen sein?

„Abendland“: ein Kampfbegriff?

Und heute? Die aktuellen Demonstrationen der Pegida-Bewegung in Dresden und in anderen Städten machen die Antwort auf diese Frage nicht leichter. Im Gegenteil. Die nervöse – wenn auch nicht grundlose – Reaktion der Politik zeigt die Befürchtung, dass hier ein Nationalismus und eine Fremdenfeindlichkeit an Boden gewinnen könnten, die wir in Deutschland eigentlich überwunden glaubten. Und mit einem Mal wird der Begriff des Abendlandes, in dem nicht selten gerade das Christliche mitgehört wird, wieder zu einem politischen Kampfbegriff, der sich wahrhaftig nicht auf die christliche Botschaft berufen kann.

Christentum: in Europa noch in den Kinderschuhen

Liebe Schwestern und Brüder, lassen Sie uns vor diesem Hintergrund noch einmal die Frage stellen, wo der christliche Glaube in unserem Land und in Westeuropa steht. Kann man tatsächlich behaupten, dass das Christentum seine beste Zeit hinter sich hat, dass es seinem Ende entgegengeht oder ideell in Deutschland bereits bankrott sei?

(M. Günther, FAS vom 28.12.2014, S. 3)

Ich bin völlig anderer Meinung. Ich bin eher davon überzeugt, dass das Wort stimmt, das mein Vorgänger, Kardinal Reinhard Marx, schon häufiger von Kardinal Jean-Marie Lustiger (1926-2007), dem ehemaligen Erzbischof von Paris, zitiert hat. Lustiger war der Überzeugung, dass das Christentum in Europa seine große Zeit nicht schon hinter sich hat, sondern dass das Christentum in Europa eigentlich noch in den Kinderschuhen steckt und seine große Zeit erst vor sich hat. Wenn wir die verschiedenen historischen und aktuellen Vorgänge, die ich aufgezählt habe, betrachten, spricht sehr viel dafür, dass diese Einschätzung richtiger ist als die Einschätzung derer, die dem Christentum in Deutschland und in Europa den Untergang prophezeien.

„Zurück zur Volkskirche“:
konservativ und nicht evangeliumsgemäß

Damit meine ich nicht, dass die Kirche nach einer längeren oder kürzeren Durststrecke wieder zu ihrer alten volkskirchlichen Gestalt zurückgelangt. Ich nehme allerdings wahr, dass der Wunsch nach der „guten alten Volkskirche“ noch viel stärker bei uns verankert ist, als es uns bewusst ist. Das gilt übrigens auch für das Heer der Kritiker innerhalb und außerhalb der Kirche! Ob nun die einen die Bischöfe, die Bistumsverwaltungen, die Pfarrer und Hauptamtlichen in der Seelsorge dafür kritisieren, weil sie zu unbeweglich und zu unprofessionell sind, oder die anderen sie kritisieren, dass sie zu wenig Profil und klare katholische Kante zeigen, so steht doch hinter beiden oft derselbe konservative Wunsch: Die Kirche möge endlich wieder besser dastehen, sie möge wieder eine stärkere Meinungsführerschaft bekommen, sie möge in Politik und Gesellschaft wieder unangefochtener sein ... Diesen Vorstellungen liegt ein Wunschdenken zugrunde, das weder realistisch, noch evangeliumsgemäß ist. Natürlich sind die Kritiker der einen wie der anderen Seite nicht so naiv, dies nicht zu wissen. Dafür wurde schon zu oft mit guten Gründen prophezeit, dass wir in unserem Land auf eine andere Sozialgestalt der Kirche zugehen, das heißt auf eine andere Weise des Kirche-Seins. Aber eines ist es, dies im Kopf klar zu haben, ein anderes, dies emotional, gefühlsmäßig mitzuvollziehen und zu bejahen. Daran haben wir alle noch kräftig zu arbeiten.

„Veränderung der pastoralen Mentalität“ gefordert

Papst Franziskus ist uns hierbei schon wieder ein Stück voraus! Er hat dies vor kurzem in einer Ansprache an die Teilnehmer eines internationalen Kongresses bewiesen, indem er ihnen unter anderem sagte: „Wir kommen aus einer jahrhundertealten Pastoral, in der die Kirche der einzige Bezugspunkt für die Kultur war. Ja, das ist unser Erbe. Als wahre Lehrmeisterin hat sie es als ihre Verantwortung gesehen, nicht nur die Kulturformen abzustecken und durchzusetzen, sondern auch die Werte, und – noch tiefergehend – die persönliche und kollektive Vorstellung vorzugeben, also die Geschichten, die Angelpunkte, auf die sich die Menschen stützen, um letzte Bedeutungen und Antworten auf ihre Lebensfragen zu finden. Aber in dieser Epoche befinden wir uns nicht mehr. Sie ist vorbei. Wir sind nicht in der Christenheit, nicht mehr.

[„Non siamo nella cristianità, non più.“ - Hervorhebung Stephan Ackermann].

Wir sind heute nicht mehr die einzigen, die Kultur machen, und wir sind weder die ersten, noch die, denen am meisten Gehör geschenkt wird. Und genau deshalb brauchen wir eine Veränderung der pastoralen Mentalität“

(Audienz für die Teilnehmer am Internationalen Kongress für Großstadtpastoral am 27.11.2014).

Diese veränderte pastorale Mentalität zeigt sich für den Papst unter anderem darin, dass sie keine Angst hat vor der Multikulturalität. „Mit dieser Realität müssen wir kommunizieren, ohne Angst. Wir müssen uns also einen pastoralen Dialog … zu eigen machen, in dem die christliche Identität nicht verhandelbar ist, sondern der vielmehr das Herz des anderen – der anderen, die anders sind als wir – erreichen will, um dort den Samen des Evangeliums zu pflanzen.“

Bistums-Synode: „Perspektiven-Wechsel“

Ich bin sehr froh, liebe Schwestern und Brüder, dass sich diese Überzeugung des Papstes mit dem berührt, was wir auch in unserer Diözesansynode beraten. Der Papst spricht von einer „Veränderung der pastoralen Mentalität“. In unserer Synode ist vom „Perspektivenwechsel“ die Rede. Denn die epochalen Veränderungen, in denen die Kirche steht, sind weder ein Verhängnis, dem wir ohnmächtig ausgeliefert sind, noch geht es da um einen Prozess, der sich gewissermaßen naturwüchsig und von selbst zum Positiven hin weiterentwickeln wird. Wir alle, die wir die Kirche bilden, sind herausgefordert, unseren Beitrag zu diesem Perspektiven- oder Mentalitätswechsel zu leisten. Im November habe ich im Kreis der Dechanten unseres Bistums fünf Thesen formuliert, die dazu beitragen wollen, dass der Perspektiven- bzw. Mentalitätswechsel gelingt. Die Mitglieder der Synode haben diese Thesen vor Weihnachten zugeschickt bekommen. Sie, liebe Schwestern und Brüder, können diese Thesen auf den Internetseiten unserer Synode finden.

Kirche entsteht durch Evangelisierung

Ich möchte heute Abend Ihren Blick nur auf die letzte und wichtigste These lenken. Sie betrifft die Sorge um die Verkündigung des Evangeliums. Diese Sorge muss stärker sein als alles andere, stärker auch als etwa die Sorge um den Platz der Kirche in der Gesellschaft. Denn der eigentliche Sinn und Zweck der Kirche, anders gesagt ihre tiefste Berufung ist die Evangelisierung. Die Kirche ist dazu da, dass sie den Menschen die Frohbotschaft Jesu Christi ausrichtet. Anders gesagt: Die Kirche ist das Werkzeug dafür, dass Menschen aller Zeiten und Orte mit Jesus Christus in Berührung kommen können. Sie ist dazu da, dass das Wort Jesu in dieser Welt nicht verstummt und er nicht in Vergessenheit gerät

(vgl. LG 1/ P. Paul VI.: EN 13.15/ P. Franziskus: EG 14.111.114.120f).

Das alles klingt weder spektakulär noch neu. Und doch müssen wir uns fragen, ob uns dieser „Primat“ der Evangelisierung, der wichtiger ist als alles andere, wirklich schon in Fleisch und Blut übergegangen ist.

Begegnung mit der froh-machenden Botschaft
und mit Jesus Christus

Wir Verkündiger können und müssen uns etwa konkret fragen: Sprechen unsere Predigten genug von Jesus? Verlassen Menschen nach einem Gottesdienst die Kirche und können sich sagen: Ich durfte Jesus wieder begegnen, oder: durfte wenigstens von ihm hören? Zwei einfache, aber nicht unwirksame Testfragen! Und fragen wir uns: Wie steht es um die Freude, die aus der Begegnung mit Jesus Christus erwächst? Spürt man bei uns diese Freude, die mächtiger ist als alle Ratlosigkeit und Niedergeschlagenheit? Eine Botschaft, die nur belastend und schwer ist, mag noch so richtig sein, sie ist nicht anziehend. Sie ist jedenfalls nicht das Evangelium, die Frohe Botschaft Jesu Christi.

Aber auch diejenigen, die nicht hauptamtlich in der Verkündigung stehen, sind von der Pflicht zu evangelisieren, nicht ausgenommen. Sie können sich fragen: Schäme ich mich, mich als katholische Christin bzw. als katholischer Christ zu bekennen? Oder anders gefragt: Versuche ich bei den vielen Diskussionen über die Kirche, in die ich vielleicht immer wieder verwickelt werde, nicht nur über Kirchenpolitik und -strukturen zu reden, sondern etwas darüber zu sagen, was mir Jesus bedeutet, wer er für mich ist – über die Kirche hinaus?

Wenn die Botschaft uns durchdringt…

Liebe Schwestern und Brüder! Ich bin davon überzeugt, dass sich dann, wenn wir uns durch solche Situationen herausfordern lassen, auch unser eigener Glaube vertieft, also das stattfinden kann, was wir Selbstevangelisierung nennen. Selbstevangelisierung ist ja nichts anderes als die Bereitschaft, sein Leben vom Evangelium prägen zu lassen. Das geht nicht ein für alle Mal, sondern ist ein lebenslanger Prozess, der dazu führen soll, dass mir die Botschaft Jesu Christi nicht äußerlich und oberflächlich bleibt, nicht bloß eine „christlich kultivierte Schale“ ist, die leicht wieder abfallen oder zerbrechen kann. Die Botschaft Jesu Christi soll uns als Personen und als Gemeinschaft bis in den innersten Kern durchdringen dürfen.

Glauben – Handeln – Kraft – Ausdauer

Liebe Schwestern und Brüder! Wir haben in der Lesung die Verse aus dem Jakobusbrief gehört: Der Verfasser fordert darin seine Adressaten auf, das Wort Gottes nicht nur anzuhören, sondern danach zu handeln. „Wer das Wort nur hört, aber nicht danach handelt“, so sagt der Briefschreiber, „ist wie ein Mensch, der sein eigenes Gesicht im Spiegel betrachtet.“ Kaum ist er vom Spiegel weg, hat er vergessen, wie er aussah (Jak 1,23f). Ein eindrückliches Bild für einen bloß oberflächlichen, flüchtigen Glauben! Das Wort Gottes, die Botschaft Jesu Christi wird nur für den ihre Kraft entfalten, der sich in sie vertieft und nach ihr handelt und der auch nicht vor Versuchungen und Prüfungen zurückschreckt, ja sogar mit ihnen rechnet. Die Prüfungen verstärken nach der Überzeugung des Jakobus die Ausdauer. Die Ausdauer schließlich führt zu einem vollendeten „Werk“.

Bitten wir den Herrn darum, dass er uns auch im kommenden Jahr die Kraft zur Ausdauer im Glauben gibt und dass er an dem guten Werk weiterwirkt, das er in uns begonnen hat. Amen.

Weiteres:

Silvester 2014

in der Predigt