Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
Die Verse aus dem Hebräerbrief, die wir soeben gehört haben, sind eine verlängerte Fassung des Abschnitts, den wir immer im Weihnachtshochamt immer als zweite Lesung vorgelegt bekommen. In der Vorbereitung auf die Weihnachtspredigt ist mir in diesem Jahr in diesen Versen besonders das Stichwort von der Endzeit ins Auge gesprungen. Ich habe davon schon im Weihnachtshochamt gesprochen. In den vergangenen Tagen ist dieser Gedanke weiter mit mir gegangen.
Denn es gibt ernstzunehmende Kommentatoren unseres Zeitgeschehens, die aktuell im Bereich von Politik, Gesellschaft und Kirche regelrechte Phänomene einer Endzeit sehen. Damit meinen sie nicht, dass morgen die ganze Welt untergeht. Sie sind keine Apokalyptiker. Aber sie stellen die Diagnose, dass sicher geglaubte Überzeugungen und traditionelle Gewissheiten, mit denen wir in den vergangenen Jahrzehnten gelebt haben, massiv infrage gestellt werden und heutzutage nicht mehr selbstverständlich sind. Für die Kommentatoren kündigt sich deutlich ein tiefgreifender Epochenwandel an.
(Vgl. Tobias Schrörs: Erinnerungen an Napoleon, in:FAZ, 17. Dezember 2018, 4)
Wenn man all diese Phänomene zusammennimmt, liebe Schwestern und Brüder, kann man verstehen, dass bei so manchem Zeitgenossen Endzeitstimmung aufkommt: Ererbte Vorstellungen, unerschütterlich geglaubte Institutionen, gesellschaftliche Systeme, vertraute Bilder sind dabei, unterzugehen, oder zerbrechen regelrecht vor unseren Augen.
Aber kehren wir noch einmal zurück zu der Rede von der Endzeit, wie sie sich im Hebräerbrief findet. Worin unterscheidet sich die biblische Redeweise über die Endzeit von der säkularen Verwendung dieses Wortes? Ich glaube, dass die weltlich-säkulare Rede von der Endzeit vor allem auf das schaut, was zu Ende geht, was nicht mehr sein wird. Sie hat aber kein Bild von dem, was kommt oder was bleibt. Weltliche Endzeitstimmung schaut vor allem zurück und bleibt damit hängen an dem, was vergeht. Das produziert auch die Untergangsstimmung, die in der Regel mit der Rede von der Endzeit verbunden ist.
Die biblische Rede von der Endzeit sieht zwar in aller Nüchternheit auch das, was untergeht; aber sie schaut vor allem auf das, was kommt. Biblische Endzeitrede hat etwas Visionäres. Denken wir nur an die große Verheißung des Propheten Jesaja von der endzeitlichen Wallfahrt der Völker zum Zion: Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg mit dem Haus des Herrn steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen alle Völker. Viele Nationen machen sich auf den Weg. Sie sagen: Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs. (Jes 2,2f) Oder erinnern wir uns an die Verheißung des Propheten Joël für die Endzeit: In jenen Tagen wird es geschehen, dass ich meinen Geist ausgieße über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben, und eure jungen Männer haben Visionen. (Joël 3,1)
Die Rede von der Endzeit, wie wir sie von den alttestamentlichen Propheten her kennen und wie sie uns im Neuen Testament begegnet, transportiert einen anderen Ton, eine andere Atmosphäre als rein weltliche Endzeitreden: Es ist die Atmosphäre der Hoffnung und des Aufbruchs. Aus gläubiger Sicht ist Endzeit gut! Denn sie bedeutet: „Endlich, Gott kommt. Endlich macht er seine Versprechen wahr. Endlich zeigt sich, was wirklich gilt. Endlich kommt ans Licht, was wahr ist und was bleibt!“
Offensichtlich war zur Zeit des Kommens Jesu die Endzeiterwartung sehr lebendig. Denken wir nur an das Auftreten Johannes‘ des Täufers: Der Rufer in der Wüste hätte nicht einen solchen Zuspruch durch die Menschen gefunden, wenn in jenen Tagen nicht die Erwartung in der Luft gelegen hätte, dass endlich der Messias, der Retter Israels kommt (vgl. Lk 3,1-18). Schon für die ersten Christen war dann mit dem Tod, mit der Auferstehung Jesu und der Ausgießung des Heiligen Geistes an Pfingsten klar, dass die Verheißungen der Propheten für die Endzeit erfüllt sind (vgl. Joel 3,1). Aus diesem Bewusstsein, ja Selbstbewusstsein heraus lebten sie. Hören wir noch einmal in den Hebräerbrief hinein: „Da die Kinder Menschen von Fleisch und Blut sind, hat auch … [Gottes Sohn] in gleicher Weise Fleisch und Blut angenommen, um durch seinen Tod den zu entmachten, der die Gewalt über den Tod hat, nämlich den Teufel, und um die zu befreien, die durch die Furcht vor dem Tod ihr Leben lang der Knechtschaft verfallen waren. Denn er nimmt sich keineswegs der Engel an, sondern der Nachkommen Abrahams nimmt er sich an.“ (Hebr 2,14ff) Was für ein Selbstbewusstsein tritt einem aus diesen Versen entgegen!
Aber: Richtig ist, dass auch in der biblischen Vorstellung von der Endzeit Bestehendes zerbricht … Das ist nicht zu verschweigen: Dinge sinken dahin, laufen sich tot, brechen zusammen oder werden hinweggefegt. Aber das ist für den gläubigen Menschen auch nicht verwunderlich. Denn für ihn sind die Verhältnisse, in denen er lebt, ohnehin vorläufig. Sie bestehen nicht ewig. Diese Einsicht kann traurig stimmen; und man darf durchaus über den Verlust von Vertrautem und Liebgewonnenem trauern!
Aber das Zergehen von Bestehendem kann auch froh machen und freier. Das gilt besonders dann, wenn Menschen unter den Verhältnissen, in denen sie leben müssen, zu leiden haben. Insofern ist es gut und richtig, wenn auch die dunklen Seiten der Kirche ans Licht kommen und überkommene Kirchenbilder zerbrechen, die nicht mehr der Realität entsprechen (ihr vielleicht nie entsprachen …). Das ist schmerzlich und enttäuschend, aber es verhilft doch zu mehr Wahrhaftigkeit und Wahrheit. Vergessen wir nicht: Oft genug waren der verschwiegene Schmerz und die stille Enttäuschung der Opfer der Preis für das strahlende Bild von der Kirche: Ein hoher, ein zu hoher Preis …
Und wenn wir an das kirchliche Leben in unseren Pfarreien, Gemeinschaften, Gruppen und Einrichtungen insgesamt denken, so geht es auch dort um eine größere Wahrhaftigkeit: Wir müssen (mehr noch als bisher) zugeben, dass Schein und Sein, Festtag und Alltag allzu oft dramatisch auseinanderklaffen. Freilich, die Volkskirche ist in manchen Bereichen langlebiger als manch einer gedacht hätte. Wie oft schon ist das Ende der Volkskirche ausgerufen worden …! Ohne Bestehendes mutwillig zu zerstören, heißt es aber auch hier, uns noch ehrlicher zu machen und die Wirklichkeit anzunehmen. Dazu brauchen wir die Vokabel von der Endzeit nicht zu scheuen. Denn in ihrem Kern erinnert sie uns erstens an die Vorläufigkeit aller bestehenden Verhältnisse. Und zweitens hält sie in uns die Überzeugung wach, dass Gott sich durch die Menschwerdung in Jesus Christus endgültig und unwiderruflich an diese Welt gebunden hat. Von diesem ewigen Bund lässt er nicht mehr, so sagt Jesus, selbst angesichts von Verrat und Tod (vgl. Mt 26,27ff).
Davon Zeugnis abzulegen, ist wesentlich Aufgabe der Christen. Sie, wir können es tun mit einer Gelassenheit und Klarheit, die der Zusage Gottes selbst entspringt. Und wir können es mit dem Selbstbewusstsein tun, von dem der Hebräerbrief geprägt ist: Einem Selbstbewusstsein, das sich von Gott gekannt, geliebt und gebraucht weiß, und das gerade deshalb andere nicht an die Wand spielen muss.
Liebe Schwestern und Brüder! Ist das nicht eine gute Haltung, um in das Neue Jahr hineinzugehen?! Mit Blick auf unser Bistum ist zu sagen, dass auch 2019 ein wichtiges Jahr werden wird auf dem Weg der Verwirklichung der Beschlüsse unserer Diözesansynode. Werfen wir einen Blick darauf, wo wir stehen.
Viele Überlegungen galten auch im zurückliegenden Jahr wieder den Pfarreien der Zukunft. Das entsprach dem Votum der Bistumsgremien, nach dem vorrangig die Beschlüsse der Diözesansynode zu den künftigen Pfarreien konkretisiert und umgesetzt werden sollen. Denn in den Pfarreien wird sich auch künftig im Wesentlichen das kirchliche Leben vor Ort abspielen. Mehr als bisher aber sollen in den neuen Pfarreien die verschiedenen Orte und Formen von Kirche miteinander vernetzt werden und soll sich der Blick über den kirchlichen Binnenraum hinaus auf das soziale Miteinander der Menschen richten.
Nachdem wir Anfang des Jahres die räumliche Umschreibung der 35 Pfarreien der Zukunft festgelegt haben, ging es in den folgenden Monaten vor allem um deren innere Ausgestaltung. Fünf Arbeitsgruppen ("Teilprozessgruppen" mit insgesamt mehr als 60 Beteiligten) haben inzwischen ihre Arbeit abgeschlossen; sie haben sich vor allem mit folgenden Fragen beschäftigt:
Besonders intensiv und kontrovers diskutiert wurden dabei die Fragen,
[Mit dem Thema des Klerikalismus und des Machtmissbrauchs (die allerdings nicht ausschließlich bei Klerikern anzutreffen sind) werden wir uns weiter beschäftigen müssen.]
Wer die entsprechenden Diskussionen ein wenig mitverfolgt hat, weiß, dass das Ringen um diese Fragen noch nicht beendet ist.
Wenn ich nun am Ende dieses Jahres in meiner Verantwortung als Bischof Bilanz ziehe und eine Einschätzung dazu geben soll, an welchem Punkt wir im Blick auf die Pfarreien der Zukunft stehen, dann erscheint mir das Zielbild für die Pfarreien inzwischen hinreichend klar. Ich danke deshalb sehr herzlich all denen, die sich mit ihrer Erfahrung, ihren Ideen, mit viel Leidenschaft und hohem Zeiteinsatz eingebracht haben, um das Bild der Pfarrei der Zukunft näher zu bestimmen.
Die Gespräche in den letzten Wochen haben mir allerdings auch deutlich gezeigt, dass alle Überlegungen und Beratungen an natürliche Grenzen stoßen. Wir werden nicht alles im Vorhinein beschreiben und bestimmen können. Erst im Gehen werden wir mehr Klarheit darüber gewinnen, was gangbar ist und was geht, wo es weitere Präzisierungen und möglicherweise auch Nachjustierungen oder gar Korrekturen braucht. Alle Schritte ins Neue bleiben ein Wagnis. Und die Übergangszeit stellt dabei eine ganz besondere Herausforderung dar. Aber das hat uns ja schon die Überschrift unseres Synodendokuments prophezeit, wo es heißt: "heraus gerufen. Schritte in die Zukunft wagen“. Was am Ende der Synode poetisch und vielleicht etwas euphorisch klang (und was damals nicht falsch war!), offenbart nun eine tiefere Wahrheit.
Nach allen Beratungen und diversen Anhörungen vor Weihnachten habe ich eine Entscheidung getroffen, wie wir im Laufe des kommenden Jahres und dann ab Beginn des Jahres 2020 konkret die weiteren Schritte auf die Pfarreien der Zukunft hin setzen. Wir werden dies am 10. Januar 2019 dem Bistum und der Öffentlichkeit genauer vorstellen.
„Endzeitstimmung“, liebe Schwestern und Brüder, das war das Motiv, unter dem meine Gedanken zum Jahresausklang standen. Christliche Endzeitstimmung ist – ich hoffe, dass dies deutlich wurde – keine depressive Stimmung, auch wenn es im ersten Moment so scheinen mag und der übliche Sprachgebrauch dies nahelegt. Christliche Endzeitstimmung ist eine Stimmung voller Hoffnung, ausgestattet mit Selbstbewusstsein und Lebensstärke. Beides speist sich aus der Gewissheit, dass Gott selbst sich uns nicht nur durch seinen menschgewordenen Sohn zeigt, sondern auch uns „Menschen von Fleisch und Blut“ ansieht als seine Kinder, um die er sich mehr sorgt als um die Engel! (vgl. Hebr 1,2; 2,14.16)
In diesem Bewusstsein zu leben, schwächt nicht, sondern es stärkt. Denn es hilft uns, zu unterscheiden zwischen dem, was bleibt und wofür einzusetzen es sich lohnt, und dem, was zeitlich, was vorläufig ist und vergeht. Das ist keine Abwertung dessen, was uns an Gaben und Mitteln dieser Erde geschenkt ist; aber es gibt ihnen den Platz, der ihnen zukommt: Die zeitlichen Güter und Möglichkeiten, die wir haben, sollen uns zu leben helfen. Sie sind Mittel, nicht Zweck.
Ein endzeitliches Bewusstsein gibt uns damit auch ein Kriterium zu kritischer Selbstüberprüfung: Es hilft uns nämlich, zu erkennen, woraus wir leben: Ist es in der Tiefe unserer Existenz Gottes Zusage und Gottes Kraft, oder ist es letztlich doch nur das Zutrauen in unsere eigenen Kräfte, eigenen Ideen und Strategien …? Diese Frage gilt im Blick auf das kirchliche Leben in unserem Bistum ebenso wie im Blick auf unser ganz persönliches Leben.
Schließlich: Aus einer endzeitlichen Haltung heraus zu leben, macht das Leben kostbar, weil sie hilft, das Leben in seiner Einzigartigkeit und seiner Unwiederholbarkeit zu sehen. Es stimmt, wenn eines unserer kirchlichen Lobgebete sagt: Vater, du gibst [uns,] deinen Kindern, die Kraft, in dieser vergänglichen Welt das unvergängliche Heil zu wirken … (Präfation für die Fastenzeit II). Wir können mitten im Vergänglichen der Zeit und unseres Lebens etwas wirken, das bleibt. Wir könnten es nicht, wenn nicht der Ewige selbst in die Zeit gekommen wäre und sich mit uns Menschen verbunden hätte in Jesus. So aber können wir es. Das bedeutet Leben in der „Endzeit“.
Bitten wir darum, dass der Herr selbst uns hilft, im kommenden Jahr die Chancen zu sehen und zu ergreifen, die er uns gibt,. Amen.