Liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
Das Evangelium des ersten Weihnachtstages hat keine Angst vor dem Wort, das in unserer Zeit so häufig verpönt ist. Zweimal spricht der Evangelist Johannes im feierlichen Auftakt seines Evangeliums von der Wahrheit. Und er sagt es ohne Umschweife: Mit Jesus Christus ist die Wahrheit in die Welt gekommen (Joh 1,14.17).
Nicht erst seitdem wir im sogenannten postfaktischen Zeitalter leben, haben wir mit der Frage, was die Wahrheit ist, unsere Probleme: „Wer könnte von sich behaupten, die Wahrheit gefunden zu haben, sie gar zu besitzen? Mit denjenigen, die das behaupteten, hat die Menschheit schon genug schlechte Erfahrungen gemacht!“, so sagen wir. Schlimme Erinnerungen an Fanatiker steigen auf, die andere im Namen der Wahrheit verfolgt haben, auf Grund einer Ideologie, aber leider auch vom Glauben getrieben. Denken wir an die Kreuzzüge und die schrecklichen Religionskriege in Europa.
Gerade diese Gewalterfahrungen im Namen der angeblichen Wahrheit, haben uns Menschen in der westlichen Welt vorsichtig gemacht, haben uns eine Grundskepsis eingepflanzt gegenüber der Rede von der Wahrheit. Die landläufige Antwort, die wir gefunden haben, lautet: Die Wahrheit an sich gibt es nicht. Jeder Mensch muss seine persönliche Wahrheit finden. Diese ist zu respektieren. Wenn es Schnittmengen zwischen meiner Wahrheit und der Wahrheit anderer Menschen gibt, dann darf ich mich darüber freuen, aber Überzeugungsversuche sollte man bitte unterlassen, erst recht Versuche der Missionierung …
Nun ist in jüngster Zeit eine neue Variante, mit der Wahrheit umzugehen, hinzugekommen: Sie wird bezeichnet mit dem Begriff „postfaktisch“. Sowohl in Deutschland wie auch in Großbritannien wurde dieser Begriff bekanntlich zum Wort des Jahres gewählt. In England spricht man von „post truth“ und meint damit das, was nach der Wahrheit kommt. Beide Wörter wollen aussagen, dass es in der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion oft nicht mehr so sehr auf die Fakten ankommt, nicht die Wahrheit der eigentlichen Tatsachen das Entscheidende sind, sondern entscheidend sei die gefühlte Wahrheit. Populisten in den USA, in England wie auch in Deutschland haben diese Methode für sich entdeckt. Wer ihnen entgegentritt mit Fakten, Zahlen und anderslautenden Erfahrungen, bekommt zur Antwort, das könne ja so sein, aber viele Menschen, gar die Mehrheit der Bevölkerung, empfinde dies anders.
Wenn aber die gefühlte Wahrheit das eigentlich Wichtige ist, dann spielen Emotionen eine wichtige Rolle. Dann kommt es darauf an, Emotionen zu mobilisieren, sie zu verstärken und sie für die eigenen Zwecke zu steuern. Und gerade das tun ja Populisten, welcher Couleur auch immer: Sie schüren Emotionen, negative (!) Emotionen der Angst (vor Überfremdung, vor Terror …), der Aggression und auch des Hasses. Im Grunde ist dies aber auch nichts anderes als der Versuch, die eigene Wahrheit mit Mitteln der Macht durchzusetzen! Genau das wollten wir aufgeklärten Menschen des Westens eigentlich doch nicht mehr haben!?
Schauen wir von hier aus noch einmal auf das Evangelium und seinen Anspruch, die Wahrheit zu verkünden. Es fällt auf, dass der Evangelist nicht bloß von der Wahrheit spricht. An beiden Stellen spricht er in einem Atemzug auch von der Gnade, ja er stellt sie sogar der Wahrheit voran. „Gnade und Wahrheit“, das ist für ihn eine Verbindung, die zusammengehört.
Was will Johannes uns damit sagen? Er will uns deutlich machen, von welcher Art die Wahrheit Gottes ist: Sie ist keine Wahrheit, die einfach vorgesetzt und behauptet wird. Sie ist Wahrheit, die uns umwirbt, die uns anzieht. Das griechische Wort für Gnade, Charis, steckt ja auch in unserem Wort „Charme“ und „charmant“. Die Wahrheit Gottes ist voller Charme, voller Anmut und Schönheit! Deshalb kommt sie uns entgegen im Kind von Bethlehem, das die Arme nach uns ausstreckt. Mit dem Charme des Kindes will Gott uns für seine Wahrheit gewinnen.
Worin aber besteht ihre Schönheit? Sie besteht darin, dass Gottes Wahrheit von der Liebe spricht. Sie sagt: Das erste und das letzte Wort über diese Welt (vgl. Joh 1,1) heißt Liebe: Gott hat aus Liebe diese Welt geschaffen. Er wird aus Liebe zu ihr selbst Mensch. Er erhält sie in Liebe, wendet sich ihr zu und erneuert sie. Deshalb ist es gut, dass es diese Welt gibt. Deshalb dürfen wir auch das Leben als Geschenk betrachten.
Wer das glauben kann, dem wird ein besonderes Lebensgefühl geschenkt. Ich nenne es das christliche Lebensgefühl. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht von einem Grundmisstrauen oder einer Grundangst bestimmt ist, sondern von einem Grundvertrauen in Gott. Wer von einem Grundvertrauen her lebt, der besitzt auch eine Grundgelassenheit und eine Großzügigkeit. Denn er sieht die Welt und die Dinge in ihr nicht grundsätzlich als bedrohliches Gegenüber, das ständig versucht, mir das Leben streitig zu machen.
Dieses Grundvertrauen ist keine Naivität, keine Blauäugigkeit von abschätzig so bezeichneten „Gutmenschen“. Das Weihnachtsevangelium sieht da ganz klar. Es ist nicht schwärmerisch. Denn da ist nicht nur von Licht und Gnade und Wahrheit die Rede, sondern auch von der Finsternis, in die das Licht kommt. Es ist die Rede von denen, die Christus nicht erkannt haben und ihn nicht aufnahmen (Joh 1,5.10f). Schon der Beginn des Evangeliums lässt wie eine Ouvertüre ahnen, wohin der Weg Jesu führen wird.
Liebe Schwestern und Brüder! Natürlich ist es wichtig, dass das christliche Lebensgefühl nicht nur eine innere Wirklichkeit von uns Glaubenden bleibt, sondern nach außen spürbar wird dadurch,
Liebe Mitchristen! In diesen festlichen Tagen will die weihnachtliche Botschaft uns auf vielfältige Weise zu Herzen reden, nicht nur im Wort der Heiligen Schrift, sondern in den unzähligen Darstellungen der Krippe, in der Fülle der Musik, im glänzenden Schmuck … Sie spricht nicht nur unseren Verstand, sondern unsere Emotionen an.
Nehmen wir das alles nicht bloß als nettes Beiwerk, sondern entdecken wir darin den Charme, die Heiterkeit, ja die Schönheit, mit der uns die Wahrheit des Glaubens erreichen will.