„Es tut dem Gottesbild gut, wenn Gott nicht vorschnell für alles und jedes zur Erklärung herhalten muss oder gar verantwortlich gemacht wird. Dadurch wird das Bild von Gott gereinigt. Gott wird dadurch nicht kleiner, sondern größer.“ Das hat Bischof Dr. Stephan Ackermann an Weihnachten (25. Dezember) im Trierer Dom betont. In seiner Predigt nahm er Bezug auf den Beginn des Johannesevangeliums, der in diesem Gottesdienst vorgetragen wurde und „in weiten Teilen ein einziger Hymnus auf das Licht, das von Gott kommt“ sei.
Im Advent stieß ich auf einen Text, in dem es hieß: „Kerzen sind eine außergewöhnliche Beleuchtung. Man könnte sagen: Wir haben sie nicht mehr nötig, und gerade deshalb brauchen wir sie.“
Der Verfasser (Oliver Stefani: Winzige Lagerfeuer, ursprünglich in: Süddeutsche Zeitung vom 16. Dezember 2020) wies darauf hin, dass das eigentlich schon seit der Erfindung der Glühbirne Ende des 19. Jahrhunderts so sei. Kerzen seien heute „keine Erhellungsinstrumente mehr, sondern vielmehr Bedeutungsträger, Symbole“. Und es gebe nichts, was sie völlig ersetzen könne. „Denn das Licht, das sie erzeugen, hat ein sehr charakteristisches Farbspektrum: sehr wenige Blauanteile, hohe Rotanteile.“ Das ergibt eine wärmere Lichtfarbe, die beruhigend wirkt. Das leichte Flackern der Flamme, der Geruch von verbranntem Wachs und vor allem die Infrarotstrahlung, also die Wärme, die von einer Kerze ausgeht, erzeugen ein Gefühl von Geborgenheit und Ruhe.
Als ich diese Gedanken zur Bedeutung von Kerzen las, dachte ich: Ist das nicht irgendwie auch ein Bild für den Glauben? Von den Kerzen sagt der Autor: „Wir haben sie nicht mehr nötig, und gerade deshalb brauchen wir sie.“ Gilt das in unserer aufgeklärten Welt nicht auch für den Glauben: Wir haben ihn nicht mehr nötig, und gerade deshalb brauchen wir ihn?
Frühere Generationen hatten den Gottesglauben regelrecht nötig, weil er ihnen Erklärungen gab für Vorgänge, die sie sich nicht anders erklären konnten, als dass sie dahinter unmittelbar den unbegreiflichen Willen Gottes sahen, dem man sich zu fügen hatte.
Stellen wir uns nur einmal die Situation der immer noch andauernden Pandemie in früheren Jahrhunderten vor: Wie sehr hätte man versucht, den Willen Gottes dafür verantwortlich zu machen. Und tatsächlich gab es zu Beginn des letzten Jahres vereinzelte Stimmen, die irrigerweise in der Situation eine Strafe Gottes sehen wollten…
Der Fortschritt der Wissenschaften hat dazu geführt, dass Gott zur Erklärung dessen, was in unserer Welt geschieht, viel seltener und viel später herangezogen wird als in früheren Zeiten. Ist das schlecht? Ich finde nicht.
Denn nach unserer Glaubensüberzeugung ist Gott doch derjenige, der uns mit Verstand begabt hat und uns die großartige Möglichkeit gibt, die Geheimnisse der Welt und des Lebens tiefer zu entdecken und zu durchdringen und damit die Welt menschenfreundlicher zu gestalten.
Deshalb ist Gott heute viel weniger der „Lückenbüßer-Gott“, der er in der Vergangenheit oft sein musste, wenn Menschen eine rationale Erklärung von Phänomenen fehlte. Und wie schnell war man bei der Hand, Gott direkt verantwortlich zu machen für Ereignisse, deren Ursprung eigentlich im Verhalten der Menschen lag.
Ich glaube, es tut dem Gottesbild gut, wenn Gott nicht vorschnell für alles und jedes zur Erklärung herhalten muss oder gar verantwortlich gemacht wird. Dadurch wird das Bild von Gott gereinigt. Gott wird dadurch nicht kleiner, sondern größer.
Allerdings ist das landläufige Ergebnis ähnlich wie bei den Wachskerzen nach der Erfindung der Glühbirne: Wir meinen, den Gottesglauben hinter uns lassen zu können.
Kehren wir deshalb noch einmal zum Bild der Kerzen zurück: Interessant ist, dass der Autor sich nicht von den Kerzen verabschiedet. Vielmehr stellt er fest: Wir haben sie nicht nötig, aber gerade deshalb brauchen wir sie.
Das klingt widersprüchlich, aber die Erklärung dafür leuchtet ein: Kerzen bringen ein Licht in die Welt, dass alles elektrische Licht nicht erzeugen kann. Und so sehr unsere heutigen künstlichen Lichtquellen die Leuchtkraft von Kerzen übertreffen und Bereiche ausleuchten, die uns ansonsten völlig unzugänglich blieben, so sehr können und wollen wir Menschen auf das Licht von Kerzen nicht verzichten. Mit ihrem warmen Farbton sprechen sie unser Herz und unser Gefühl an, führen uns weg von der grell ausgeleuchteten Oberfläche in die Tiefe. Zugleich laden sie uns ein, sich um sie zu versammeln, regen dazu an, Gemeinschaft zu bilden.
Liebe Schwestern und Brüder, wir dürfen wahrhaftig dankbar sein für den ständigen Fortschritt von Wissenschaft und Technik. Ohne ihn würden wir in unzähligen Bereichen unseres Lebens buchstäblich im Dunkeln tappen, hätten wir keine Lösungen für die uns bedrängenden Probleme.
Aber wir wissen es – und die Corona-Pandemie lehrt es uns noch einmal auf ihre Weise: Das Licht der reinen Rationalität reicht nicht. Es allein erhellt nicht das Zwielicht unserer Zweifel und die Dunkelheiten unseres Herzens. Dazu braucht es mehr.
Wohlbegründetes Vertrauen in die Wissenschaft ersetzt nicht das, was uns der Glaube zu geben vermag. Wir brauchen beides.
Der Prolog des Johannesevangeliums, den wir jedes Jahr in der Messe am 1. Weihnachtstag als Evangelium hören, ist in weiten Teilen ein einziger Hymnus auf das Licht, das von Gott kommt:
Stellen wir uns in diesen weihnachtlichen Tagen voll Dankbarkeit und Freude in dieses Licht. Dazu kann es hilfreich sein, sich zwischendurch bewusst die Zeit zu nehmen, um einfach still eine Kerze zu betrachten oder in das Licht eine Flamme zu schauen, und sich erinnern zu lassen an das einzigartige Licht, das der Glaube gibt; an das Licht, das Gott selbst für unser Leben sein will.