Liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
In den weihnachtlichen Tagen geht unser Blick immer auch auf das zu Ende gehende Jahr. Weihnachtliche Klänge und Gedanken vermischen sich mit diversen Jahresrückblicken. Menschen nutzen die Weihnachtsgrüße, um persönlich Rückschau zu halten. Und wenn die Familien in diesen Tagen zusammenkommen, wenn wir uns mit Verwandten und Freunden treffen, bringt man sich gegenseitig auf den aktuellen Stand der Dinge, berichtet von Ereignissen des zurückliegenden Jahres. Manch einer wird wohl sagen: „Ein zweites Jahr 2018 muss nicht sein …“ Und wenn wir nicht nur in unserem eigenen, überschaubaren Lebenskreis bleiben, sondern auf die größeren gesellschaftlichen und globalen Entwicklungen schauen, dann wird bei uns allen die Bilanz gemischt ausfallen. Manche Kommentatoren des Weltgeschehens sehen regelrechte Phänomene einer Endzeit. Damit meinen sie nicht, dass die ganze Welt morgen untergeht. Sie meinen damit, dass alte Gewissheiten, sicher geglaubte Überzeugungen ins Wanken geraten oder gar ans Ende kommen:
All das zeigt, so sagen nachdenkliche Zeitgenossen: Die Zeichen stehen auf Endzeit! Überkommene Vorstellungen, Institutionen, gesellschaftliche Systeme sind dabei unterzugehen, oder drastischer gesagt: Sie zerbrechen vor unseren Augen.
Auch die biblischen Lesungen des Weihnachtsfestes scheuen sich nicht, von der „Endzeit“ zu reden. Wir haben als zweite Lesung den feierlichen Auftakt des Hebräerbriefs gehört: Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten. In dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn (Hebr 1,1-2a). Die ersten Christen sahen mit der Geburt Christi die Endzeit angebrochen. Schon zur Zeit des Auftretens Jesu war das Gefühl, in einer Endzeit zu leben, sehr lebendig. Denken wir nur an das Auftreten Johannes‘ des Täufers: Der Rufer in der Wüste hätte nicht solchen Zuspruch durch die Menschen gefunden, wenn in jenen Tagen nicht die Erwartung in der Luft gelegen hätte, dass endlich der Messias, der Befreier Israels kommt. Und der Evangelist Lukas hält ausdrücklich fest, dass die Menschen, die mit Betroffenheit der Predigt des Täufers zuhören, sich im Stillen fragen, ob nicht Johannes selbst bereits der Messias ist (vgl. Lk 3,15f).
Liebe Schwestern und Brüder, wenn wir heute von „Endzeit“ und „Endzeitstimmung“ sprechen, dann hat diese Redeweise letztlich in der Bibel ihren Ursprung. Doch was unterscheidet das weihnachtliche Reden von der sonst üblichen Rede von der Endzeit? Wenn wir in weltlichen Zusammenhängen von Endzeit sprechen, dann ist damit in der Regel eine gewisse Untergangsstimmung verbunden (Das sagt nichts gegen die Richtigkeit gesellschaftlicher Analysen!). Die Endzeit, von der das Neue Testament spricht, transportiert aber einen anderen Ton, eine andere Atmosphäre: Die Atmosphäre der Hoffnung und des Aufbruchs. Endzeit ist gut! Endlich – Gott kommt. Endlich wird sein Handeln sichtbar.
Damit geht Endzeit weihnachtlich verstanden den umgekehrten Weg als sonst üblich: Wenn in unseren weltlichen Zusammenhängen von Endzeit geredet wird, gilt die Devise: „Rette sich, wer kann! Sieh zu, dass du rechtzeitig den Absprung schaffst und nicht mit dem alten System in den Untergang gerissen wirst!“ Endzeit weihnachtlich aber heißt: Gott lässt die Welt nicht zugrunde gehen. Er sucht nicht das Weite, geht nicht auf Abstand zu seiner Schöpfung, ist nicht Zuschauer des Untergangs, sondern im Gegenteil: Gott kommt auf die Welt zu, intensiver als jemals zuvor: Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott früher durch die Propheten zu uns gesprochen. In dieser Endzeit spricht er zu uns durch seinen Sohn selbst, d. h. er verbindet sich mit der Welt und den Menschen auf ganz neue, unerwartete Weise, indem er selbst Mensch wird.
Gott sagt nicht: „Jetzt reicht’s. Das Maß ist voll“. Er sagt: „Die Zeit ist erfüllt.“ Deshalb verbreitet die biblisch-weihnachtliche Rede von der Endzeit überhaupt keine Untergangsstimmung, sondern hat einen ganz und gar freudigen Ton. Ja, sie kann sogar besungen werden!
Ihr freudiger Ton kommt auch daher, dass Endzeit weihnachtlich Endgültigkeit meint: Seit Weihnachten gibt es von Gott her keine Vorläufigkeit mehr. Gott spielt nicht mit der Welt, sie ist kein Versuchsobjekt … Nein, indem Gott selbst Mensch wird in Jesus von Nazaret, kommt er ein für alle Mal, gibt er der Menschheit sein Ja, das er nie mehr zurücknehmen wird. Mitten in aller irdischen Vorläufigkeit, in aller Veränderung ist das Endgültige schon da. Die Weihnachtsbotschaft ist keine Botschaft auf Abruf, ist kein Programm mit befristeter Laufzeit. Sie ist das Wort, das ein für alle Mal Fleisch geworden ist und den Tod besiegt hat. Darauf ist Verlass. Das gibt denen, die die Botschaft hören und annehmen, eine ganz neue Sicherheit. Und es gibt zugleich Gelassenheit. Von daher sind Christen durchaus endzeitlich gestimmte Menschen, aber sie sind keine Untergangspropheten.
Zugleich sind sie Menschen, die das Leben ernst nehmen. Denn: Leben in der Endzeit heißt auch, um unsere Verantwortung zu wissen: Wir haben nur das eine Leben und die eine Welt. Gott spielt nicht mit dieser Welt. Das zeigt er an Weihnachten, indem er sich unwiderruflich an diese Welt bindet. Auch wir sollen nicht mit dieser Erde spielen. Dafür ist sie zu kostbar.
Klingt das für unser festliches Weihnachtshochamt zu ernst, liebe Schwestern und Brüder? Ich glaube nicht. Das ist das doch Großartige der Weihnachtsbotschaft: Sie ist kein plüschiges Märchen, sondern sie weiß um die harten Realitäten des Lebens: um Zweifel, Zukunftsangst, Armut, Ablehnung, Flucht … Aber dieses Wissen um die Realität des menschlichen Lebens ist zugleich getragen von einer großen Zuversicht, die nicht menschengemacht, sondern gottgeschenkt ist. Deshalb ist der Ernst des Lebens seit Weihnachten umspielt von einer Heiterkeit, die mit kindlichem Vertrauen zu tun hat. Zu einem solchen Vertrauen wird Jesus später die Menschen auffordern (vgl. Mt 18,3). Denn ohne dieses Vertrauen gibt es keinen Weg zu Gott.
Lassen wir uns in diesen weihnachtlichen Tagen durch die Bilder, die Musik und die Texte neu vom heiteren Ernst der Botschaft von Bethlehem ergreifen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen: Frohe Weihnachten!