Liebe Schwestern und Brüder!
Weihnachten: Das ist ein Fest des Lebens. Alle Weihnachtslieder, die wir singen, sind so etwas wie Hymnen auf das Geschenk des Lebens. Wenn der Evangelist im feierlichen Prolog seines Evangeliums schreibt: „das Leben war das Licht der Menschen“, dann bringt er damit zum Ausdruck, worin der ursprünglichste Grund menschlicher Lebensfreude besteht: Es ist das Leben selbst. Dass uns Leben geschenkt ist, dass es uns überhaupt gibt und dass wir uns dessen bewusst sein dürfen, ist Grund zur Freude. Das Leben ist das Licht der Menschen.
Ich glaube, diese Botschaft ist es, die Menschen anspricht weit über den Raum der Kirche und des Christentums hinaus. Bildlich verdichtet ist diese Botschaft im neugeborenen Kind in der Krippe. Im Blick auf das Kind wird uns einmal neu klar: Wie schön, dass es – trotz aller Belastungen und Ängste – das menschliche Leben gibt, dass wir dieses Leben haben dürfen und dass wir es mit anderen teilen dürfen. Auch das Kind in der Krippe ist nicht allein. Es ist umgeben von seinen Eltern und von denen, die Zug um Zug zur Krippe hinzustoßen: Hirten und Könige, Arme und Reiche, Hohe und Geringe … Wie schön, dass wir Leben haben und dass wir es, jeder von uns, nicht alleine haben, sondern dass andere da sind, die die Gabe des Lebens mit uns teilen, die uns gut sind, denen wir vertrauen können, ohne die wir nicht leben könnten und möchten. All das schwingt irgendwie in der Botschaft von Bethlehem mit, und das berührt Menschen über alle Grenzen von Religion und Kultur hinweg.
Das sogenannte Tagesgebet der Messe vom 1. Weihnachtstag bringt all diese Empfindungen zur Sprache, wenn es sagt: Gott, du hast den Menschen in seiner Würde wunderbar erschaffen. Das Gebet geht zurück auf Papst Leo den Großen und damit ins 5. Jahrhundert. Seit mehr als 1.500 Jahre werden diese Worte überliefert und gesprochen. Die kirchliche Gemeinschaft ist dieser Worte nicht überdrüssig – trotz all der Leiden, die Menschen seitdem durchmachen mussten, trotz all der Scheußlichkeiten, die Menschen sich gegenseitig angetan haben und antun. Die Formulierung des Kirchengebets zeigt einen grundpositiven Blick auf den Menschen. Ja, das Gebet ist von einem regelrechten Staunen über den Menschen und seine Größe geprägt. Gerade auch der gläubige Mensch weiß zu staunen über die Fähigkeiten, die im Menschen liegen. Schon im Alten Testament ruft der Beter von Psalm 8 staunend Gott gegenüber aus: „Du hast den Menschen nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt.“ (Ps 8,6)
Doch bei allem ehrlichen Staunen ist das Gebet vom ersten Weihnachtstag nicht blauäugig. Es bekennt, dass Gott den Menschen in seiner Würde wunderbar erschaffen hat, aber es sieht auch die Notwendigkeit von Erneuerung. Es weiß sehr wohl um die vielfache Verletzung der Würde des Menschen: Das ist die Würde des Anderen, der womöglich von mir ausgegrenzt, erniedrigt, missachtet wurde … Aber es geht auch um die eigene Würde, hinter der ein Mensch zurückbleibt, die er leichtfertig verspielt … Deshalb ist die Rede von Erneuerung. Im lateinischen Original ist von „reformare“ die Rede. Das Gebet bleibt also nicht mit staunend-offenem Mund über die Größe des Menschen stehen, sondern sieht beim Menschen durchaus Reformbedarf, d. h. Bedarf, zur ursprünglich heilen Form und Größe zurückzukehren.
Nun aber kommt die Weihnachtsbotschaft ins Spiel. Denn das Gebet spricht keinen Appell zur Besserung aus, sondern es spricht davon, dass Gott, der den Menschen wunderbar erschaffen, diesen noch wunderbarer wiederhergestellt, „reformiert“ hat. Das Staunen über den Menschen und seine Würde, das Staunen über die Schöpfung wird noch übertroffen durch das Staunen über die Erlösung.
Aber wie geschieht die? Wie stellt Gott den Menschen noch „wunderbarer“ wieder her? Indem er das Gegenteil von dem tut, was man erwarten könnte: Gott distanziert sich nicht von seinem Geschöpf. Er nimmt auch keine Reparatur aus göttlichem Sicherheitsabstand heraus vor, sondern er verbindet sich noch enger mit dem Menschen. Unbegreiflicherweise schämt Gott sich nicht für sein Geschöpf, sondern er bekennt sich zu ihm noch mehr. Indem er selbst Mensch wird im Kind von Bethlehem, zeigt er, wie kostbar ihm die Würde des Menschen ist. Gott achtet die Würde des Menschen nicht einmal für sich selbst als zu gering. Anders gesagt: Mensch zu werden, ist für Gott nicht unter seiner Würde …!
Deshalb kann das Weihnachtsgebet sogar mit der Bitte enden: “Lass uns teilhaben an der Gottheit deines Sohnes, der unsere Menschennatur angenommen hat.“ Wenn diese Bitte nicht reine Blasphemie sein soll, dann kann sie nur bedeuten, dass Jesus, der unsere Menschennatur angenommen hat, der also weiß, was in uns vorgeht und wie es um uns steht, uns mit seiner göttlichen Kraft zu Hilfe kommt. Wir bitten darum, dass Jesus uns zur wahren Höhe des Menschseins führt – durch sein Wort und Beispiel, aber auch indem er uns mit seiner inneren Kraft zu Hilfe kommt. Ansonsten blieben wir mit unseren Kräften heillos überfordert.
So aber befähigt uns Gott, als Menschen unserer Würde gemäß zu leben. Diese besteht darin, so zu leben, wie es dem Willen Gottes entspricht. Und dieser Wille heißt Liebe. Sie ist nämlich zugleich Gottes eigenes innerstes Lebensprinzip. So ist die Liebe irgendwie das Naheliegendste und zugleich Anspruchsvollste, zu dem der Mensch fähig ist. So einfach sie uns in guten Stunden fällt, so anspruchsvoll ist die Liebe dann, wenn sie nicht von einem entsprechenden Gefühl zum Anderen getragen ist. Dann verlangt sie dem Menschen ebenso viel ab wie alle Höchstleistungen von Wissenschaft und Technik.
Etwas Wichtiges ist noch anzufügen: Die Würde, von der hier die Rede ist, ist nicht identisch mit der individuellen Leistungsfähigkeit eines Menschen. Jedem Menschen – unabhängig von seiner körperlichen, geistigen oder sittlichen Stärke – kommt diese Würde zu. Deshalb haben wir jedem Menschen entsprechend zu begegnen. Denn genau das tut auch Gott. Wir sehen das im Leben Jesu: Jesus wendet sich mit ganz besonderer Liebe den Kranken und den Sündern zu, Menschen, denen die Zeitgenossen damals die Menschenwürde abgesprochen haben. Gott erkennt jedem Menschen dieselbe Würde zu; sogar dann, wenn dieser seine menschliche Würde durch eigenes Verschulden verspielt hat. Denken wir an das Gleichnis von den beiden Söhnen, in dem der jüngere alles verspielt und in der Fremde bei den Schweinen landet … (Lk 15,11-32), Bei seiner Rückkehr nimmt ihn der Vater als vollwertiger Sohn wieder auf.
Liebe Schwestern und Brüder! In einem Adventskalender fand ich vor einigen Jahren den Hinweis auf „Kintsugi“. Kennen Sie Kintsugi? Kintsugi ist eine japanische Technik, um wertvolle Keramikgefäße, die zu Bruch gegangen sind, wieder zu reparieren. Kintsugi heißt: Goldreparatur. Der Name deutet auf die Methode: Danach wird eine zerbrochene Keramik nicht so wieder zusammengefügt, dass man möglichst keine Bruchstellen und Risse mehr sieht. Vielmehr benutzt man zur Reparatur einen besonderen Kitt und Lack, in den Goldstaub gemischt wird. So bleiben die Bruchstellen zwar sichtbar, aber sie wirken kostbar und geben dem Gefäß einen unverwechselbaren Charakter.
Beim Nachdenken über das Tagesgebet von Weihnachten fiel mir diese Technik wieder ein und Bilder, die ich davon gesehen habe. Sie sind auf ihre Weise ein Bild für den großen Künstler Gott, der uns Menschen in unserer Würde wunderbar erschaffen und noch wunderbarer wiederhergestellt hat. Amen.