Schriftlesung: Phil 1,4-6.8-11
Liebe Mitbrüder im geistlichen Dienst,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
Vor nunmehr gut sieben Monaten habe ich mein Amt als Bischof von Trier angetreten und bin seitdem Ihr Bischof. Es waren für mich, wie Sie sich denken können, reich gefüllte Monate. Sie waren vor allem geprägt von ungezählten Begegnungen. Viele Menschen, die im kirchlichen, aber auch im außerkirchlichen Raum Verantwortung tragen, haben schon bald den Kontakt mit mir gesucht. Bis heute konnte ich noch nicht all diesen Gesprächswünschen gerecht werden und bitte dafür um Verständnis. Eine besondere Prägung erhielten meine ersten Monate als Diözesanbischof durch die Visitation im Dekanat Bitburg, durch die Bistumswallfahrt ins Heilige Land, durch meine Firmreise im Dekanat Völklingen sowie die Dekanatsgespräche mit den Priestern, mit denen ich im Dezember begonnen habe. In drei Dekanaten konnte ich schon mit den Mitbrüdern sprechen.
Mit großer Dankbarkeit schaue ich auf die vergangenen Monate zurück. Vor allem danke ich für den Zuspruch und die gute Aufnahme, die ich erfahren habe. Ich danke den Mitbrüdern Weihbischöfen sowie dem Herrn Generalvikar mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dafür, dass sie mir die Zeit gewähren, mich mit Bereichen vertraut zu machen, in die ich bisher weniger Einblick hatte.
Natürlich geht mein Blick jetzt noch stärker als vorher auf das Ganze des Bistums. So habe ich mich in den zurückliegenden Monaten neben den alltäglichen Aufgaben und Verpflichtungen immer wieder gefragt, wie der weitere Weg für unser Bistum insgesamt aussieht. Welchen Auftrag hält der Herr bereit für das Volk Gottes im Bistum Trier, das ja mehr ist als die bloße Summe aller dazugehörigen Pfarreien und Katholiken? Wohin will Jesus Christus uns in dieser Zeit führen?
Ursprünglich hatte ich gedacht, mich zu dieser Frage bereits zu Beginn des Advents in einem Pastoralschreiben ausführlicher äußern zu können. Ich musste aber einsehen, dass dies zeitlich nicht zu realisieren war. Erschwerend hinzu kam die Erkenntnis, dass unsere finanziellen Mittel knapper werden in einem Maß, das uns verbietet, weiterzumachen wie bisher. Wenn ich das zusammen sehe mit den vielfältigen pastoralen Fragen, die uns tagtäglich umtreiben und die Sie kennen, so dass ich sie hier nicht auszuführen brauche, so bringt mich dies zu der Überzeugung, dass es einer grundsätzlichen Vergewisserung bedarf. Es stellt sich die Frage, wie wir insgesamt die Situation beurteilen, in der wir stehen. Wie sehen wir uns als Kirche? Wo sehen wir unseren Platz in der Gesellschaft? Welches Kirchengefühl bestimmt uns? Diese Fragen sind nicht neu. Sie werden im Grunde in jeder Generation gestellt. Oft greift man zu ihrer Beantwortung auf biblische Bilder zurück. Sie sollen als Hilfen zu einem besseren Selbstverständnis dienen und zugleich eine Perspektive für die Zukunft eröffnen.
Zur Deutung unserer aktuellen kirchlichen Situation hat man in den letzten Jahren häufig das Bild der Kundschafter aus dem Buch Numeri herangezogen (vgl. Num 13-14): Es beschreibt den Moment, in dem das Volk Israel nach den vierzig Jahren der Wüstenwanderung an der Schwelle des verheißenen Landes angekommen ist. Mose schickt einige Männer aus, die das vor ihnen liegende Land Kanaan erkunden sollen. Als sie zurückkehren, fällt ihr Bericht zwiespältig aus: Auf der einen Seite sind sie fasziniert von der Fruchtbarkeit dieses Landes. Es ist tatsächlich ein Land, »in dem Milch und Honig fließen« (vgl. Num 13,27). Auf der anderen Seite sind die Kundschafter von Angst erfüllt: Die Bewohner des Landes kamen ihnen wie Menschenfresser und Riesen vor, gegen die die Israeliten keine Chance haben. So verfällt das Volk in eine Depression und will zurückkehren nach Ägypten. Verständlicherweise ruft das den Zorn Gottes hervor, der dem Volk mangelndes Vertrauen auf ihn und seine Macht vorwirft: »Wie lange verachtet mich dieses Volk noch, wie lange noch wollen sie nicht an mich glauben trotz all der Zeichen, die ich mitten unter ihnen vollbracht habe?« (vgl. Num 14,11)
Auf unsere Situation hin gewendet wird das alttestamentliche Bild folgendermaßen interpretiert: Die Kirche in unserem Land steht im Übergang zu einer neuen Phase ihrer Geschichte. Die sogenannte Volkskirche mit ihren überkommenen Strukturen geht zu Ende. Es heißt, sich neu zu orientieren. Das Bild der Kundschafter will Mut machen, sich auf Neues einzulassen und gerade auch die Chancen zu entdecken, die zum Beispiel in den vergrößerten pastoralen Räumen liegen. Nicht die Trauer über das Ende der »guten, alten Zeit« der Volkskirche soll überwiegen, sondern die Entdeckerfreude über das neue, noch weithin unbekannte Terrain.
In der Tat wird mir bei meinen Besuchen vor Ort immer wieder von positiven Überraschungen berichtet, die unsere Aktiven in den neuen Pfarreiengemeinschaften erleben. Eine stärkere Kooperation beispielsweise in der Rätearbeit, in der Katechese, in der Kirchenmusik oder zwischen den Frauengemeinschaften setzt Ideen und Kräfte frei, die man sich allein als Pfarrgemeinde nicht (mehr) zugetraut hätte. Es wächst ein neues Wir-Gefühl zwischen Pfarreien, die sich dies vor zehn Jahren noch nicht hätten vorstellen können. Darüber hinaus eröffnen sich auch zwischen Pfarreien und Verbänden, wie etwa der Caritas, ganz neue Felder der Zusammenarbeit und des gemeinsamen Zeugnisses. Dennoch: Pastorale Entdeckerfreude und die Lust zum Aufbruch als die vorherrschende Grundstimmung in unseren Pfarreien zu bezeichnen, wäre übertrieben.
Manch einem erscheint daher das Bild des Exils als Deutungshilfe für die Kirche unserer Zeit passender: In dieser Sicht ist die Kirche dem Volk Israel vergleichbar, das sein angestammtes Heimatrecht verloren hat und nun in Babylon nur noch eine Gruppe unter vielen ist in einem pluralistischen Gemisch von Religionen und Weltanschauungen. Von den weltlichen Autoritäten bestenfalls geduldet statt geachtet, und in der eigenen Identität dauernd gefährdet durch die verführerische Attraktivität anderer Kulturen und Lebensentwürfe sehen sich die Gläubigen in Bedrängnis. Man spricht nach dieser Lesart von der »Kirche in der Fremde« oder gar von der »Kirche in winterlicher Zeit«. [Vgl. S. Kiechle SJ: Zuversicht im Niedergang. Priesterliches Leben in winterlicher Zeit, Herder Korrespondenz 63 (2009/ Heft 11), 551-556.]
Bestimmte Ähnlichkeiten zwischen der Situation des Exils und unserer heutigen Kirchenerfahrung lassen sich wahrhaftig nicht abstreiten. Dennoch ist mir dieses Bild insgesamt zu düster. Es erscheint mir ähnlich übertrieben wie das zuerst genannte, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Mit meiner persönlichen Erfahrung stimmt das Bild des Exils jedenfalls in weiten Teilen nicht überein. Gerade als Diözesanbischof habe ich in den letzten Monaten erlebt, dass die Kirche durchaus gefragt ist. Man wünscht sich Stellungnahmen der Kirche nicht nur zu den ihr eigenen Fragen des Glaubens, sondern auch etwa zur Problematik des Milchpreises wie zur Situation in Afghanistan... Für einen Bischof besteht die Versuchung eher darin, sich zu einem Kommentator des Tagesgeschehens zu entwickeln. Das kann aber nicht unsere Aufgabe sein. Allerdings sind wir mit unseren Stellungnahmen zweifellos dann gefordert, wenn es um Grundfragen von Sinn, von Orientierung und Werten in unserer Gesellschaft geht. Ob die Menschen unsere Antworten und Überzeugungen annehmen, steht freilich auf einem anderen Blatt. Hier stoßen wir an Grenzen. Denn mehr als je zuvor leben wir in einer freiheitlichen Gesellschaft. Die Menschen - auch die Mitglieder der Kirche - nehmen sich die Freiheit, sich eigenständig für ihre persönlichen Überzeugungen und Lebensentwürfe zu entscheiden. Jeder von uns ist doch dankbar für diese Freiheit: Wir wollen uns nicht einfach von anderen vorschreiben lassen, was gut für uns ist.
Ich bleibe also bei meiner Einschätzung: Die Kirche ist in unserem Land keine Randerscheinung. Das Bild des Exils ist zu pessimistisch. Wovor wir uns allerdings hüten müssen, ist eine selbstgewählte Emigration. Sie ist eine reale Gefahr. Sie bedroht uns überall dort, wo wir der Kraft des Evangeliums nicht mehr recht trauen, wo wir uns ängstlich in den vermeintlich geschützten kirchlichen Innenraum zurückziehen, um auf diese Weise das zu bewahren, was noch zu bewahren ist. Leider sind solche Entwicklungen hier und da in unseren Pfarreien, Vereinen und Gemeinschaften zu beobachten. Dann aber sinkt die Kirche zu einer Art von »Club« herab. Das ist tödlich. Vor einer »Verclubbung der Kirche« (C. Hennecke) müssen wir uns mit allen Kräften hüten.
Doch noch einmal: Das Bild von der Kirche in Exil und winterlicher Zeit halte ich für überzeichnet. Es hieße nämlich, das vielfältige Engagement, die Kreativität und die Vitalität kirchlichen Lebens in unserem Bistum zu übersehen. Wie viel Herzblut wird in unseren Gemeinden und Gemeinschaften für die »Sache« des Glaubens und der Kirche vergossen! Das dürfen die Weihbischöfe und ich bei unseren Visitationen immer wieder feststellen, und das soll an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich gewürdigt werden. Wie viel guter Wille und wie viel Einsatzbereitschaft sind da, die oft nur darauf warten, abgerufen zu werden.
Diese Bereitschaft wäre noch größer und der Wille zum Mitgehen noch stärker, so höre ich manchmal sagen, wenn der Bischof noch klarer signalisieren würde, in welche Richtung es gehen soll. Daraus spricht der Ruf nach einer Vision. Es ist nämlich leichter, die schmerzlichen und kräftezehrenden Veränderungsprozesse zu ertragen, wenn man weiß, wohin die Reise führt.
»Ein Volk ohne Visionen geht zugrunde«, so wurde uns in den letzten Jahren mit Rückgriff auf das Buch der Sprichwörter (29,18) immer wieder gesagt. Und es ist wahr: Um einen Weg gut gehen zu können, brauche ich die Vorstellung von einem Ziel, muss ich wissen, wo ich hin will. Insofern ist der Ruf nach einer Vision berechtigt. Wir haben aber eben gesehen, wie schwer wir uns damit tun, ein passendes Bild für die aktuelle Situation der Kirche zu finden. Daher brauchen wir uns nicht zu wundern, dass es uns noch schwerer fällt, ein visionäres Bild von der Kirche der Zukunft zu entwerfen. In diesem Punkt geht es uns in der Kirche offensichtlich nicht anders als denjenigen, die in unserem Land politische Verantwortung tragen. Mit großen Würfen für eine zukunftsfähige Gesellschaft tut man sich schwer. Dies hat nach meiner Überzeugung wesentlich seinen Grund darin, dass die letzten großen Utopien wie etwa der Sozialismus, aber auch ein ungebändigter Fortschrittsglaube inzwischen auch ihre hässlichen und entwürdigenden Gesichter gezeigt haben. Wir sind kleinlauter geworden, was visionäre Entwürfe angeht. Ob aber nicht gerade das ein Zeichen, das heißt ein Charakteristikum unserer Zeit ist, das wir ernst zu nehmen haben auch für die Kirche? Wirkliche Visionen entstehen weder am Schreibtisch noch im abgeschiedenen Elfenbeinturm, sondern in der Auseinandersetzung mit der konkreten Realität. Das bezeugen schon die Visionen der alttestamentlichen Propheten. Ihre Botschaften waren immer Antworten auf die konkreten sozialen, religiösen, politischen oder gar militärischen Gegebenheiten des Volkes Israel.
Eine wirkliche Vision ist also weder etwas selbst Ausgedachtes noch eine abgehobene Träumerei. Sie ist das, »was sich von Gott her zu sehen gibt« (C. Hennecke: Kirche, die über den Jordan geht. Expeditionen ins Land der Verheißung, Münster 32008, 146ff.). Um dies zu sehen, bedarf es einer wachen Aufmerksamkeit auf das Hier und Heute. Man könnte diese Aufmerksamkeit übrigens schlicht mit dem traditionellen Begriff des Gehorsams bezeichnen. Der Philosoph und Psychologe Albert Görres (1918-1996) hat diese Art des Gehorsams einmal den »Gehorsam der Sachlichkeit« genannt. Damit meinte er die Bereitschaft, »die Dinge und Verhältnisse erst einmal sie selbst sein zu lassen [...], den eigenen Verstand nach ihnen [zu] richten« und sie nicht durch unser Wunschdenken zu verzerren. Ein solche Haltung des Gehorsams stellt uns Menschen, so A. Görres, »vor eine unendliche asketische Aufgabe, [nämlich:] vor den schmerzhaften Verzicht auf unsere Tendenz, die Dinge so zu sehen, wie wir sie gern hätten.« [A. Görres: Freiheit und Gehorsam, in: Internationale Katholische Zeitschrift - Communio 21 (1992), 69 - 75; hier: 70.]
Liebe Schwestern und Brüder, mag der geforderte Verzicht auch schmerzhaft sein, wir spüren intuitiv, dass der Philosoph Görres Recht hat und diese Haltung unserem Glauben zutiefst angemessen ist. Nur aus einem »Gehorsam der Sachlichkeit« heraus werden wir das sehen und hören, was sich von Gott her zu erkennen gibt. Nur aus einem solchen Gehorsam heraus werden wir zu Visionen fähig, die uns verlässlich die Richtung zeigen.
Schon der hl. Franziskus hat übrigens auf seine Weise dieselbe Einsicht formuliert: In den Lebensbeschreibungen über den Heiligen von Assisi wird berichtet, dass ein Verantwortlicher des Ordens Franziskus um Rat bat in der Frage, wie er mit der Vielzahl seiner Amtspflichten und mit all den Konflikten umgehen solle, die ihm viel Kraft und Zeit raubten. Daraufhin gab ihm Franziskus zur Antwort: »Was den Zustand deiner Seele betrifft, sage ich dir, so gut ich kann: Alles, was dich hindert, Gott den Herrn zu lieben und wer immer dir Schwierigkeiten machen mag, seien es Mitbrüder oder andere, auch dann, wenn sie dich schlagen sollten, alles sollst du als Gnade ansehen. Was dir widerfährt, sollst du wollen und nichts anderes! Lass es geschehen aus wahrem Gehorsam gegen Jesus Christus.«
Was nach Fatalismus und einem ebenso antiquierten wie überzogenen Begriff von Demut klingt, ist im Grunde nichts anderes als ein Gehorsam der Sachlichkeit, der bereit ist, die Dinge zunächst einmal so anzunehmen, wie sie sind, und daran zu glauben, dass sich in ihnen – auch wenn es vordergründig nicht so aussieht – ein Anruf Gottes verbirgt. Ob man darin – wie Franziskus – sogleich eine Gnade entdecken kann, ist natürlich eine andere Frage.
Liebe Schwestern und Brüder! Die Gespräche und Erfahrungen der letzten Monate haben in mir die Überzeugung wachsen lassen, dass wir auch für unser Bistum Trier nur aus dieser Haltung heraus den richtigen Weg finden werden. Ein recht verstandener Sachgehorsam wird uns nicht nur helfen, die zu bewältigenden Sachprobleme anzugehen, sondern auch dazu beitragen, die passende Sozialgestalt (das heißt: die angemessenen Formen und Strukturen) für die Kirche von morgen zu finden. Ich persönlich bin daran, Abschied zu nehmen von dem Wunsch, eine möglichst umfassende Vorstellung der Kirche von morgen zu gewinnen. Freilich, wie schön wäre es, eine Art Masterplan für die Pastoral, für das Personal, für unser Engagement im Bereich von Bildung, Caritas, Kultur und für unsere Immobilien zu haben ...! Wer würde nicht gerne von heute aus die zukünftige Gestalt der Kirche vermessen, um sie dann Zug um Zug in die Wirklichkeit umzusetzen! Wahrscheinlich ist aber gerade dieser Wunsch nach einer Vermessung der Kirche pure Ver messenheit im wahrsten Sinne des Wortes.
Trotz allem können wir nicht auf visionäre Ideen verzichten. Oder sagen wir es bescheidener: Wir brauchen innere Leitbilder, die uns Orientierung geben für unser konkretes Entscheiden und Handeln. Nicht umsonst habe ich deshalb zu einer gemeinsamen Suche nach einem Leitwort für die große Heilig-Rock-Wallfahrt 2012 aufgerufen. Ich möchte diese Einladung heute Abend noch einmal von Herzen bekräftigen. Ich glaube nämlich, dass ein stimmiges Leitwort für die Wallfahrt mit dazu beitragen kann, unseren christlichen Auftrag in dieser Zeit in neuer Weise zu erkennen.
Diesen Auftrag finden wir nicht hinter oder über der konkreten Wirklichkeit. Wir finden ihn nur im gläubigen Blick auf diese Wirklichkeit mit ihren schönen Seiten und mit ihren Schwierigkeiten, das heißt: Wir finden unseren Auftrag nur in all dem, was es an Frohmachendem und Ermutigendem in unseren Gemeinden gibt, aber auch an Schmerz und Enttäuschung. Erinnern wir uns noch einmal an den Ratschlag des Franziskus: »Was dir widerfährt, sollst du wollen und nichts anderes!« Die frühen christlichen Theologen haben diese Erkenntnis auf die Formel gebracht haben: »Was nicht angenommen wird, kann auch nicht erlöst werden.« Sie kamen zu dieser Erkenntnis im Blick auf das Geheimnis der Menschwerdung Gottes, das wir in diesen weihnachtlichen Tagen feiern: Indem Gott Mensch wird, nimmt er uns Menschen insgesamt an. Auf diese Weise erlöst er uns und hebt uns zu sich empor. Auf ähnliche Weise müssen wir uns als Christen auf die jeweilige Zeitsituation einlassen, in die wir gestellt sind. Nicht aus einer Ablehnung, sondern nur aus einer gläubigen Annahme der Situation heraus, können wir unsere Zeit im Sinne Gottes gestalten.
Es wäre also verhängnisvoll, wenn wir die konkreten Fakten unserer derzeitigen Kirchensituation, gerade auch die unangenehmen und schmerzlichen (wie die schwindende Kirchenbindung, den Priestermangel, die knapper werdenden finanziellen Ressourcen), abtrennen würden von der Frage des Glaubens. Eine solche Trennung käme geradezu einer Häresie, einer Irrlehre, gleich. Sie würde uns nämlich einerseits dazu verleiten, die Frage von Personen und Strukturen rein menschlich (oder gar rein wirtschaftlich) zu betrachten. Andererseits würde sie Spiritualität und Frömmigkeit in einen Bereich jenseits der konkreten Realität verbannen. Beides gehört aber zusammen. Denn unser Glaube ist ein fleischgewordener, ein konkreter Glaube.
Während der Diskussionen um das Projekt 2020 wurde darüber geklagt, dass die geistliche Dimension in diesem Prozess zu kurz gekommen sei. Ich konnte diese Klage verstehen. Zugleich ist mir klar geworden, dass die spirituelle Dimension eines solchen Prozesses nicht darin bestehen kann, neben oder nach der Bearbeitung der »harten Fakten« noch etwas »Frommes« zu tun. Nein, die spirituelle Dimension, d. h. die Dimension des Glaubens, liegt weniger in einem zusätzlichen Inhalt, einem zusätzlichen Was, als in dem Wie eines Prozesses. Am Wie entscheidet sich, ob wir aus dem Glauben heraus handeln oder nicht.
Das wird auch für die kommenden Prozesse gelten: Dabei denke ich an die bereits für die nächsten Monate anstehenden Beratungen über die notwendige Reduzierung der Bistumsausgaben. Schon jetzt ist absehbar, dass wir an einer Aufgabenkritik nicht vorbeikommen, die uns dazu zwingt, die vielfältigen Engagements des Bistums auf ihre Zukunftsfähigkeit hin zu überprüfen. Wir wollen diesen Prozess in der gläubigen Grundhaltung angehen, die ich oben beschrieben habe. Zugleich wollen wir möglichst transparent und beteiligungsorientiert vorgehen, um alle wichtigen Gesichtspunkte zu berücksichtigen und intelligente Lösungen zu finden. Sehr wahrscheinlich wird es aber auch zu Entscheidungen kommen, die nicht ungeteilte Zustimmung finden werden. Umso mehr darf ich alle Beteiligten darum bitten, beizutragen zu einer Atmosphäre, die von einer Gemeinsamkeit aus dem Glauben heraus getragen ist. Sie verbietet nicht die geforderte sachliche Auseinandersetzung, die es um eines guten Ergebnisses willen braucht.
Natürlich denke ich auch an die weitere Umsetzung des Strukturplans 2020. Die Grenzen und Zuordnungen der künftigen Pfarreiengemeinschaften sind festgelegt. Das ist entschieden. Damit brauchen wir uns jetzt nicht mehr zu beschäftigen, und das ist zunächst einmal entlastend. Nun aber gilt es, die Strukturen Schritt um Schritt mit Leben zu erfüllen. Dazu braucht es Ideen, Geduld und einen respektvollen Umgang miteinander.
Damit das gelingt, bitte ich Sie alle, liebe Mitchristen, um Ihr begleitendes Gebet für den Weg unseres Bistums. Ich setze dabei besonders auf die Schwestern und Brüder in den monastischen und kontemplativen Ordensgemeinschaften. Dennoch: die Verpflichtung zum Gebet gilt uns allen. Denn nur in der Haltung des Gebetes und des gläubigen Gehorsams Gott und den Menschen gegenüber werden wir in rechter Weise unterscheiden und entscheiden können. Und nur so wird unser Weg auch ein wirklich geistgewirkter Weg in die Zukunft sein.
Zuerst und vor allem aber wollen wir an diesem Abend Gott, dem Herrn, danken für die gütige Führung, die wir bisher schon durch ihn erfahren durften. Danken wir ihm in dieser Stunde und an diesem Ort, hier im Dom, in der Mutterkirche unseres Bistums, nicht nur persönlich und individuell, sondern stellvertretend für die ganze Bistumsgemeinschaft und bitten wir ihn um sein spürbares Geleit in 2010. Amen