"Die Dokumentation zeigt eine notwendige und leider eine unbequeme Wahrheit: Großangelegte Klimaschutzprojekte in Brasilien könnten mit erheblichen sozialen und ökologischen Kosten verbunden sein. Als Brasilianer sah ich sie mit der Vertrautheit eines Menschen, der die tiefgreifenden strukturellen Probleme seines Landes, die seit Jahrzehnten bestehen, auf der Leinwand wiedererkennt. Die zentrale Botschaft des Films ist entscheidend: es ist inakzeptabel, dass sich vermeintlich "grüne" Projekte in Instrumente der Menschenrechtsverletzungen und des Greenwashings im großen Stil verwandeln.
Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass der Film mehrere komplexe Themen - Energie, Landwirtschaft und Landbesetzung, Wirtschaft und Umwelt - vermischt und sie vor dem Hintergrund brasilianischer Strukturprobleme projiziert. Die Realität ist vielschichtiger. Dieselbe Investitionslogik, die im Cerrado zu Konflikten führt, kann unter anderen Bedingungen ein Vehikel für positive Entwicklung sein, wie ich selbst im Bereich der Windenergie beobachten konnte. In diesem Zusammenhang möchte ich die folgenden Themen etwas vertiefen: Energie, Landbesetzung und Umwelt.
Die Energie-Frage: Dringlichkeit hebt Ethik nicht auf
Die Energiewende ist für Brasilien und die Welt nicht verhandelbar. Die Dekarbonisierung der Industrie und der Ersatz fossiler Brennstoffe durch erneuerbare Energien sind dringend und willkommen. Die Nutzung von Biomasse, wie im Film im Zusammenhang mit der Stahlproduktion gezeigt, ist ein gültiges Werkzeug in diesem Prozess. Das Problem liegt daher nicht in der Technologie selbst, sondern im Umsetzungsmodell. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Klimabegründung dazu dient, lokale soziale und ökologische Kosten zu ignorieren. Die Lehre hier ist nicht, von der Nachhaltigkeit zurückzutreten, sondern zu einem Modell voranzuschreiten, das in all seinen Dimensionen wirklich nachhaltig ist.
Die Agrar- und Landfrage: Der Kern des Konflikts
Der Dokumentarfilm trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er die komplexe und oft gewalttätige Landfrage im brasilianischen Hinterland aufdeckt. In abgelegenen Regionen sind unklare oder fehlende Eigentumsnachweise ein fruchtbarer Boden für Konflikte. Das Auftauchen großer Konzerne mit Versprechungen von "Wiederaufforstung" kann diese Spannungen verschärfen und traditionelle Gemeinschaften sowie Kleinbauern an den Rand drängen.
Das Phänomen der Landbesetzungen seinerseits ist ein reales soziales Problem, das oft von extremistischen Narrativen verzerrt wird. Die im Film gezeigte Anheuerung privater Sicherheitsdienste ist eine Reaktion auf diese Konfliktlage, kann aber ohne Kontrolle und strenge Regulierung zu Missbräuchen und zur Kriminalisierung der lokalen Bevölkerung führen. Es ist ein Teufelskreis, der durch mehr staatliche Präsenz, mehr Aufsicht und mehr Transparenz durchbrochen werden muss, und nicht nur durch mehr private Sicherheit.
Ein weiteres zentrales Problem ist das strukturellen Machtgefälle in der Beziehung zwischen Privatunternehmen, lokalen Regierungen und der ansässigen Bevölkerung. Die Unternehmen verfügen über gut strukturierte Rechtsabteilungen und finanzielles Kapital, was ihnen einen privilegierten Zugang zu Informationen und Entscheidungsträgern verschafft. Die lokalen Gemeinschaften hingegen haben oft nur begrenztes Wissen über ihre Rechte und die komplexen rechtlichen Prozesse. Zudem sind sie häufig nicht ausreichend organisiert, um ihre Anliegen effektiv gegenüber den Entscheidungsträgern zu vertreten. Diese ungleichen Ausgangsbedingungen können zu einer Ausbeutung der lokalen Bevölkerung führen, die in dieser Beziehung häufig den kürzeren zieht.
Das positive Gegenbeispiel: Windenergie als Agent der "Bodenreform"
Meine Erfahrungen im brasilianischen Windenergiesektor bieten einen optimistischen und konkreten Gegenentwurf. Das exponentielle Wachstum dieser Energiequelle im Nordosten Brasiliens seit 2011 hat gezeigt, dass grüne Investitionen und soziale Entwicklung vereinbar sind.
In den ländlichen Gebieten von Bahia, Rio Grande do Norte, Ceará und Piauí (alle in Nordosten Brasiliens) kamen Windparks in Orte, an denen die staatliche Präsenz minimal war. Es handelt sich um eine Beziehung zwischen grundsätzlich den Unternehmen und der lokalen Bevölkerung. Durch das Pachtmodell für Land erhielten Landbesitzer, die zuvor nicht einmal eine formale Adresse oder eine stabile Einkommensquelle hatten, eine regulierte Rechtsposition. Um eine Windkraftanlage errichten zu können, muss das Unternehmen den legalen Besitz oder Pachtvertrag für das Gebiet nachweisen. Dies brachte Würde, eine juristische Identität und ein entscheidendes Zusatzeinkommen für Tausende von Familien. In diesen Fällen war die erneuerbare Energie keine Bedrohung, sondern ein Agent der bäuerlichen und wirtschaftlichen Inklusion.
Die Umweltfrage: Biome, Auswirkungen und der Trugschluss der Einheitslösung
Brasilien ist nicht nur ein Biom. Wir haben den Amazonas-Regenwald, den Cerrado, den Atlantischen Regenwald, die Caatinga, die Pampa und das Pantanal. Jedes ist ein einzigartiges Ökosystem. Jeder großflächige Eingriff, wie der Ersatz der einheimischen Cerrado-Vegetation durch Eukalyptus-Monokulturen, hat tiefgreifende und irreversible Auswirkungen auf die lokale Tier- und Pflanzenwelt, und auf die lokale Bevölkerung, die möglicherweise die einheimische Vegetation nutzt. Der Film gibt einen wichtigen Warnhinweis auf die Beeinträchtigung des Wasserhaushalts und den Verlust der biologischen Vielfalt durch diese Projekte.

Dies macht deutlich, dass Kontrolle und Regulierung drastisch verbessert werden müssen. Die Zertifizierung von Nachhaltigkeit, wie im Film angedeutet, scheint den brasilianischen sozio-ökologischen Kontext völlig außer Acht zu lassen. Solange der Staat vor Ort versagt, kann sich die Privatwirtschaft ihrer Verantwortung nicht entziehen. Selbstregulierung und Investitionen in robuste sozial-ökologische Due Diligence sind keine Option mehr, sondern eine Verpflichtung.
Fazit: Für eine wirklich nachhaltige Zukunft
"Verschollen" ist ein wichtiger Dokumentarfilm, weil er vor der Vereinfachung der Klimaprobleme und dem blinden Glauben an Marktlösungen warnt. Er zeigt die reale Gefahr, dass der Kampf gegen den Klimawandel zu einem neuen Kapitel der Ausbeutung werden könnte.
Die brasilianische Realität ist jedoch voller Kontraste. Das gleiche Land, das die Konflikte im Cerrado beherbergt, ist auch Schauplatz von Erfolgsgeschichten wie der der Windenergie. Der Weg nach vorn ist nicht der Rückzug, sondern das Lernen und die Kurskorrektur. In diesem Zusammenhang brauchen wir:
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Verschärfte Vorschriften und effektive Kontrollen für alle grünen Projekte.
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Nachhaltigkeitszertifizierungen, die soziale und biodiversitätsbezogene Kriterien enthalten, die ebenso streng sind wie die für Kohlenstoff.
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Geschäftsmodelle, die - wie in der Windenergie - die lokalen Gemeinschaften integrieren und aufwerten und sie zu Partnern der Entwicklung machen.
Keine Energie und kein Projekt wird zu 100% frei von Auswirkungen sein. Aber wir können und müssen dieses Ideal mit Ethik, Transparenz und Gerechtigkeit anstreben. Die nachhaltige Zukunft Brasiliens hängt von unserer Fähigkeit ab, die Warnungen von "Verschollen" zu hören und gleichzeitig die Beispiele zu replizieren und auszubauen, die bereits zeigen, dass ein anderer Weg möglich ist.
Gerne empfehle ich Ihnen auch die zusätzliche Dokumentation des Senders ARTE ´Bedrohter Amazonas - Warum die grüne Lunge stirbt´, die ebenfalls die Problematik in Brasilien gut darstellt."
André Themoteo, Referent beim Referat Kilimaschutz des Bistums Trier