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Sexualisierte Gewalt – eine Begriffsbestimmung*

Grenzverletzung - Sexuelle Übergriffe - Strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt

Das Thema der sexualisierten Gewalt im schulischen Kontext löst allenthalben große Verunsicherungen aus. Einseitige und überzogene Reaktionsmuster sind sogar hinderlich, angemessene Strategien und Maßnahmen zur Verhinderung und Aufdeckung sexualisierter Gewalt im Schulbereich zu entwickeln. Vielmehr bedarf es eines authentischen und grenzachtenden Umgangs miteinander, weshalb die  Auseinandersetzung mit folgenden Fragen sich zwangsläufig ergibt: 

  • Wann liegen Grenzverletzungen vor und wo beginnt sexualisierte Gewalt?
  • Ist der individuellen Wahrnehmung diesbezüglich immer zu trauen?
  • Welche Formen pädagogischen Handelns sind förderlich und welche grenzverletzend?

Die Auseinandersetzung mit dem Thema zeigt, dass es keine einheitliche, universelle Begriffsdefinition sexualisierter Gewalt gibt. Vielmehr finden viele – oft nicht trennscharfe – Begriffe Verwendung. Hier wird nun der Versuch einer Differenzierung unternommen.

*nach Enders, U., Kossatz, Y., Kelkel, M., Eberhardt, B. (2010). Zur Differenzierung zwischen Grenzverletzungen, Übergriff en und strafrechtlich relevanten Formen der Gewalt im pädagogischen Alltag. Köln: Zartbitter e.V.

Mit freundlicher Genehmigung der Abteilung Katholische Schulen in Freier Trägerschaft der Hauptabteilung Schule/Hochschule des Generalvikariates des Erzbistums Köln ist der Text "Begriffsbestimmung sexualisierte Gewalt" aus der Veröffentlichung Wir machen uns stark! Institutionelles Schutzkonzept für die Schulen in Freier Trägerschaft des Erzbistums Köln (2017) übernommen worden.

Meist geschehen Grenzverletzungen unbeabsichtigt. Grenzverletzungen können auch Hinweise auf fachliche oder persönliche Verfehlungen des Mitarbeitenden sein. Das unangemessene Verhalten einer Grenzverletzung kann auch durch Mangel an eindeutigen Normen und Regeln in einer Organisation hervorgerufen werden. Täter und Täterinnen setzen Grenzverletzungen gegenüber dem Opfer jedoch auch im Zuge ihrer Anbahnung gezielt ein, um zu testen, wie weit sie bei der Schülerin oder dem Schüler gehen können, ohne eine Gegenwehr zu provozieren, die eine mögliche Aufdeckung zur Folge hätte.

Die Einstufung eines Verhaltens als grenzverletzend beruht nicht nur auf objektiven Kriterien, sondern ebenso auf dem subjektiven Erleben von Schülerinnen und Schülern. Im schulischen Alltag lassen sich zufällige und unbeabsichtigte Grenzverletzungen nicht vollkommen vermeiden. Es handelt sich hierbei jedoch um eine einmalige oder gelegentlich vorkommende unbeabsichtigte Missachtung der Grenzen von Schülerinnen und Schülern und nicht um einen grundlegenden Mangel an Respekt diesen gegenüber. Wird sich die Lehrerin oder der Lehrer der unbeabsichtigten Grenzverletzung bewusst, ist dies sogar Ausdruck eines achtsamen Umgangs.

 

Fallbeispiel

Eine Lehrerin trägt während des Unterrichts kurze Röcke und Kleider, teilweise mit tiefem Ausschnitt. Als sie sich über einen Schüler beugt, um ihm eine Aufgabe zu erklären, rutscht ihr Rock hoch und ein großer Teil ihrer Oberschenkel ist für die dahinter sitzenden Schülerinnen und Schüler sichtbar. Einige Schüler machen sich hierüber lustig, andere sind peinlich berührt und schauen weg. Teilweise lässt sich durch den Ausschnitt auch der Ansatz ihres Busens erahnen. Ein Schüler vertraut sich dem Beratungslehrer der Schule an und berichtet, dass ihn der offenherzige Kleidungsstil der Lehrerin störe und er manchmal nicht wisse, wie er sich ihr gegenüber verhalten solle. 

 

Weitere Beispiele

Einmalige/seltene Missachtung einer (fachlich) adäquaten körperlichen Distanz (grenzüberschreitende, zu intime körperliche Nähe und Berührungen im alltäglichen Umgang oder bei der Hilfestellung im  Sportunterricht).
Einmalige/seltene Missachtung eines respektvollen Umgangsstils (z. B. öff entliches Bloßstellen einer Schülerin bzw. eines Schülers vor der Klasse, persönlich abwertende, sexistische oder rassistische Bemerkungen).
Schüler und Schülerinnen mit Kosenamen ansprechen („Süße“, „Schätzchen“ usw.). Eigene Verantwortung für den Schutz von Schülerinnen und Schülern bei Grenzverletzungen durch andere Schülerinnen/Schüler abgeben (z. B.: „Regelt das untereinander“ … „Ihr sollt doch nicht petzen!“).

Im Gegensatz zu Grenzverletzungen sind sexuelle Übergriffe niemals zufälliger oder unbeabsichtigter Natur. Die übergriffige Person missachtet bewusst gesellschaftliche Normen und Regeln sowie fachliche Standards. Widerstände des Opfers werden übergangen. Sexuelle Übergriffe können sowohl durch Körperkontakt als auch in verbaler Form erfolgen. 

Täter und Täterinnen setzen sexuelle Übergriffe im Anbahnungsprozess gezielt ein, um die Grenzen der Mädchen und Jungen zu testen und strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt vorzubereiten.

Übergriffe unterscheiden sich weiterhin von unbeabsichtigten Grenzverletzungen durch:
Massivität und/oder Häufi gkeit der Grenzverletzungen;
Missachtung verbal oder nonverbal gezeigter (abwehrender) Reaktionen der Opfer;
Missachtung von Kritik Dritter an dem übergriffigen Verhalten (z. B. Kritik durch die Schulleiterin, den Schulleiter, Kolleginnen oder Kollegen, Schülerinnen oder Schüler);
fehlende Verantwortungsübernahme für das eigene übergriffige Verhalten;
Abwertung von Schülerinnen und Schülern, die Dritte um Hilfe bitten;
Vorwurf des Mobbings gegenüber Schülerinnen und Schülern oder Kolleginnen und Kollegen, die das übergriffige Verhalten benennen und z. B. der Schulleitung melden.


Fallbeispiel

Ein Sportlehrer betritt vor und nach dem Sportunterricht immer wieder ungefragt die Umkleidekabinen der Mädchen, während sich diese  umziehen. Einige Mädchen haben ihn bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass ihnen dies unangenehm sei und er die Umkleidekabine  nicht ungefragt betreten solle. Der Sportlehrer tut diese Aussagen ab und entgegnet, dass er für den reibungslosen Ablauf des Sportunterrichts Sorge zu tragen habe und nach dem Sportunterricht nachsehen müsse, ob die Kabinen leer seien und alle pünktlich zur nächsten Unterrichtsstunde kämen.

 

Weitere Beispiele

Die Dynamik der Schülergruppe manipulieren, um die eigene Machtposition auszubauen bzw. einzelne Schülerinnen und Schüler zu isolieren oder zu mobben
Wiederholtes Flirten mit Schülerinnen und Schülern (z. B. vermeintlich scherzhafte Auff orderung zum Kuss, Anreden von Schülerinnen und Schülern mit Kosenamen)
Sexualisierung der Klassenatmosphäre (z. B. durch häufige anzügliche Bemerkungen oder unangemessene Gespräche über Sexualität, durch sexuell eindeutige Bewegungen, Gesten oder Mimik, voyeuristische Blicke)
Wiederholte Missachtung einer fachlich adäquaten körperlichen Distanz (z. B. gezielte/wiederholte Berührungen: Ein Lehrer beugt sich in Ruhearbeitsphasen immer wieder über eine Schülerin und berührt sie wie zufällig am Busen.)

Das Strafgesetzbuch fasst die strafrechtlich relevanten Formen sexualisierter Gewalt unter den „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ (vgl. StGB §§ 174 – 184) zusammen. Strafbar ist neben dem Missbrauch von Kindern auch der Missbrauch an Jugendlichen und Schutzbefohlenen. Der Gesetzgeber stellt zudem exhibitionistische Handlungen, die Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger und das Ausstellen, die Herstellung, das Anbieten und den Eigenbesitz von kinderpornographischen Materialien unter Strafe.

Aus dieser Definition ergibt sich, dass sexuelle Übergriffe strafrechtlich relevant sein können, jedoch nicht müssen. Dies hängt von der Art und Schwere des Übergriffs ab. Die sprachliche Differenzierung in Grenzverletzungen, sexuelle Übergriffe und strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt zeigt, dass die Grenzen zwischen den Formen fließend sein können. Unabhängig von diesen inhaltlichen Differenzierungsproblemen gilt jedoch, dass jede Form sexualisierter Gewalt in privaten wie öff entlichen Lebensräumen einen massiven Übergriff auf das Wohl von Kindern und Jugendlichen darstellt und sanktioniert
werden muss.