Mit dem Papst beten wir, dass wir, inspiriert vom heiligen Franziskus, unsere gegenseitige Abhängigkeit von allen Geschöpfen erfahren, die von Gott geliebt sind und Liebe und Respekt verdienen.
Die häufig formulierte Untergliederung der Schöpfung in eine materielle Welt, eine biologische und eine menschliche Welt führt in der Regel dazu, dass diese Bereiche und ihre Schutzwürdigkeit unterschiedlich bewertet werden im Sinne einer aufsteigenden Wertigkeit von der materiellen Welt bis hin zum Menschen als „Krone der Schöpfung“. Dabei laufen wir jedoch Gefahr, zu übersehen, wie abhängig und aufeinander angewiesen alle Bereiche sind. Mehr noch: der Mensch ist viel mehr auf die ihn umgebende Natur angewiesen als umgekehrt. Nicht selten wird das in dem Satz zum Ausdruck gebracht: „Die Erde kann sehr gut ohne den Menschen weiter existieren – nicht aber der Mensch ohne die Erde.“ Auch hier kann uns das Gleichnis vom „Leib und den vielen Gliedern“ hilfreich sein. Betrachten wir die ganze Schöpfung als einen Leib, als ein Organismus, der aus vielen verschiedenen Gliedern besteht, gilt auch hier, dass keines der Glieder über ein anderes sagen kann, dass er es nicht bräuchte: „Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich brauche dich nicht. Der Kopf wiederum kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht. Im Gegenteil, gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes sind unentbehrlich. … Gott aber hat den Leib so zusammengefügt, dass er dem benachteiligten Glied umso mehr Ehre zukommen ließ, damit im Leib kein Zwiespalt entstehe, sondern alle Glieder einträchtig füreinander sorgen.“ Dies gilt auch für die Glieder der Schöpfung, einschließlich des Menschen. „Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle Glieder mit“, so im Gleichnis weiter (1Kor12,21ff). Der heilige Franziskus hat diese Gleichwichtig- und Gleichwertigkeit aller „Glieder der Schöpfung“ auf ganz besondere Weise zum Ausdruck gebracht, indem er sie in seinem Sonnengesang personalisiert hat, von „Bruder Sonne“ und „Schwester Mond“ spricht und so die gesamte Schöpfung auf die gleiche Ebene zum Menschen hebt und ihr damit eine besondere Würde und Schutzbedürftigkeit verleiht.
Markus Leineweber
Gebet
Der Sonnengesang
Höchster, allmächtiger, guter Herr,
dein sind das Lob, die Herrlichkeit und Ehre und jeglicher Segen.
Dir allein, Höchster, gebühren sie,
und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen.
Gelobt seist du, mein Herr,
mit allen deinen Geschöpfen,
zumal dem Herrn Bruder Sonne,
welcher der Tag ist und durch den du uns leuchtest.
Und schön ist er und strahlend mit großem Glanz:
Von dir, Höchster, ein Sinnbild.
Gelobt seist du, mein Herr,
durch Schwester Mond und die Sterne;
am Himmel hast du sie gebildet,
klar und kostbar und schön.
Gelobt seist du, mein Herr,
durch Bruder Wind und durch Luft und Wolken
und heiteres und jegliches Wetter,
durch das du deinen Geschöpfen Unterhalt gibst.
Gelobt seist du, mein Herr,
durch Schwester Wasser,
gar nützlich ist es und demütig und kostbar und keusch.
Gelobt seist du, mein Herr,
durch Bruder Feuer,
durch das du die Nacht erleuchtest;
und schön ist es und fröhlich und kraftvoll und stark.
Gelobt seist du, mein Herr,
durch unsere Schwester, Mutter Erde,
die uns erhält und lenkt
und vielfältige Früchte hervorbringt
und bunte Blumen und Kräuter.
Gelobt seist du, mein Herr,
durch jene, die verzeihen um deiner Liebe willen
und Krankheit ertragen und Drangsal.
Selig jene, die solches ertragen in Frieden,
denn von dir, Höchster, werden sie gekrönt.
Gelobt seist du, mein Herr,
durch unsere Schwester, den leiblichen Tod;
ihm kann kein Mensch lebend entrinnen.
Wehe jenen, die in tödlicher Sünde sterben.
Selig jene, die er findet in deinem heiligsten Willen,
denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid antun.
Lobt und preist meinen Herrn
und dankt ihm und dient ihm mit großer Demut.
Aus: Dieter Berg, Leonhard Lehmann (Hg.), „Franziskus-Quellen“
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